dreissig

Termine zum Vormerken

Trotzkopfdumm Piano

30.04.2022  ♦  20:00

TROTZKOPFDUMM, Konzert, Lesung, Fotoshow,
Lea-Drüppel-Theater, 45721 Haltern am See, Zanustraße 2

28.05.2022  ♦  20:00,

TROTZKOPFDUMM, Konzert, Lesung, Fotoshow,
KuZ   Erlöserkirche, 45768 Marl, Schachtstraße 104

Laubblatt mit Schatten

02.07. bis 10.08., „Braunes Gefindel“- die Laubfotos, Ausstellung
Atelier Spitthöver, Königstraße 10, 48231 Warendorf

10.07.  ♦  17.07.  ♦  24.07.  ♦  31.07.  ♦  07.08.  ♦  immer Sonntags, jeweils 16:00
Zwei plus Zwei um Vier = Extraportion Kunst
Zwei Songs und zwei Texte live im Rahmen der Ausstellung „Braunes Gefindel“
Dauer: 15-20 Minuten

Das Naheliegende

Irgendwo in
Überall tut Jemand
An seinem Arbeitsplatz
Das Naheliegende. Jenseits
Des Tellerrandes geht unbemerkt
Glühend die Sonne unter.

Und wieder auf. Beleuchtet
Das Naheliegende.

Mit einiger Freude kann ich berichten: Ein Teil dieses Blogs, das Zwischenspiel „Coronagener Lebens-Wandel“ ist soeben als Buch erschienen. Man kann es analog kaufen – mit vorher blättern und anlesen – in Haltern am See im Buchladen „Kortenkamp“ und im Unverpackt-Laden. Aber natürlich ist es auch erhältlich bei allen Online-Buch-Anbietern und beim Verlag selbst: Tredition.

Buchcover Coronagener Lebens-Wandel

„Klappentext: Am 23. März 2020 begann der erste Corona-Lockdown. Einen Tag vorher beginnt das Corona-Tagebuch von Martin Gehrigk. Nachdenklich und humorvoll, bisweilen analytisch reflektierend und poetisch, wagt Martin Gehrigk einen besonderen Blick auf eine besondere Zeit … „

Assist

Ich gebe das Auto ab. Inspektion. Nehme die Schlüssel des Leihwagens in Empfang. Suche das Gefährt auf dem Parkplatz. Komisch, hier steht nirgendwo so ein Kleinwagen, wie er angekündigt war. Also betätige ich den Autoschlüssel mit der Fernsteuerung des Schlosses. Das Auto, das mich mit freundlichem Blinken willkommen heißt, steht schon an der Einfahrt bereit. Es ist alles andere als ein Kleinwagen. Schon beim Einsteigen merke ich: Es ist nagelneu und hat jede Menge Schnickschnack, den ich nicht kenne. Beim Einlegen des Rückwärtsganges öffnet sich auf dem Bildschirm in der Mitte der Armaturenkonsole ein Bild vom Gelände hinter mir. Zwei Linien zeigen mir den Weg an. Sie verändern ihre Biegung je nach Lenkradeinschlag. Ich drehe mich trotzdem lieber um. Altes Misstrauen gegenüber Kamera-Bildern.
Auf der Fahrt möchte ich wie gewohnt den Tempomat einschalten. Finde ihn nicht. Kann auch nicht suchen. Muss ja fahren. Sehe beiläufig einen Schalter mit der Bezeichnung „Assist“. Drücke ihn. Merke keine Veränderung. Der Tempomat jedenfalls funktioniert nicht. Suche weiter. Einen Schalter mit einem stilisierten Tacho oder so. In einem kurzen Moment, in dem ich erneut zwecks Suche den Blick von der Straße nehme, zuckt plötzlich das Lenkrad. Ich erschrecke. Erinnere mich aber wieder. Das hatte ich doch schon mal in einem anderen Leihwagen: Spurhalteassistent.
Irgendwann finde ich doch den Tempomat und gleite vor mich hin ohne dauernd mit dem Fuß die Geschwindigkeit kontrollieren zu müssen. Hänge meinen Gedanken nach. Plötzlich nimmt der Wagen selbstständig Tempo weg. Im Display am unteren Rand der Frontscheibe, das ich jetzt erst bemerke, erscheint ein stilisierter Fahrweg. Sofort begreife ich. Das Auto hält von alleine den gebotenen Abstand zu dem LKW in einiger Entfernung vor mir ein. Ich bin begeistert. Tolles Feature! Sofort tanzen die Gedanken. Wieso ist das eigentlich nicht Pflicht-Bauteil in Autos? Ohne die Möglichkeit, es per „Assist“-Schalter auch wieder zu entriegeln? Oder wenigstens mit einem nervigen Warnton, wenn es nicht eingeschaltet ist. Wie beim Sicherheitsgurt. Stelle mir vor, wie eine Runde hochkarätiger Entwicklungs-Ingenieure, Vorstände, Abteilungsleiter – alle männlich natürlich – besprechen, mit welcher Begründung sie empfehlen, dieses absolut geniale Sicherheits-Tool nicht zur selbstverständlich dauerhaft arbeitenden Schutzfunktion zu machen. Ohne Abschaltmöglichkeit.
Finde keine.
Als ich ansetze, den LKW zu überholen, gibt das Auto selbstständig wieder Gas. Ein längeres Stück gerade Straße liegt vor. Kein Verkehr. Eine gute Gelegenheit mit diesem Spurhalteassistenten zu spielen. Hochgradig unvernünftig, aber jetzt gerade mal einfach zu verlockend. Ich lasse das Lenkrad los. Plötzlich erscheint im Display eine Warnleuchte.

Warnleuchte

Ich stutze. Was soll denn jetzt dieses Bernhardiner-Icon mit Schweinsnase? Gibt es da eine mir unbekannte „Achtung-Hund-im-Kofferraum-ungesichert“-Funktion? Quatsch. Plötzlich durchzuckt mich: Das ist gar kein Hund. Ach du Schreck! Maske vergessen! Während ich noch über mich selber lache, dass es so lange gedauert hat, bis mir klar wurde, dass ich im Auto keine Maske brauche, probiere ich wieder, das Lenkrad loszulassen. Erneut erscheint das Bernhardiner-Icon. Diesmal schaue ich genauer hin. Neben der Warnleuchte steht ein Schriftzug:

Warnhleuchte Lenkrad festhalten

Ich kann es nicht lassen und probiere, die Warnschrift wieder aufleuchten zu lassen. Sie erscheint auch. Aber in einer anderen Farbe und mit leicht anderem Text.

Warum, weiß ich nicht.
Werde ich beobachtet?
Egal – ich spiele weiter. Ob das Lenkrad wohl merkt, wenn ich nur mit einer Hand anfasse? Kurz danach muss ich die Testreihe abbrechen. Ich muss etwas anderes machen. Der Hintern wird bedrohlich heiß. Ich muss die Sitzheizung herunterregeln. Ist wohl noch von meinem Vorgänger. Wer lässt sich denn bitte so den Hintern grillen!? Als ich den Schalter endlich gefunden habe, bin ich da.
Beim Aussteigen male ich mir aus, das Auto würde mich verabschieden. „Tschüss Martin, bis gleich.“ Darüber vergesse ich abzuschließen. Plötzlich höre ich ein Flappen, drehe mich um, sehe wieder das freundliche Blinken. Dabei legen leise surrend die Außenspiegel die Ohren an. Das Auto schließt sich selber ab.
Als ich es am nächsten Tag wieder abgebe, bin ich ein bisschen trist. Diesen ganzen Schnickschnack hätte ich auch gerne. So schnell geht das …

Rückkehr

Und doch ist sie tatsächlich nach Anderland zurückgekehrt. Drei Wochen Sterben zum Leben hin aufgeklart.
Mit friedlichem Gleichmut lässt sie sich vom Pfleger wie eh und je in die Kleidung helfen – dabei der rechte Arm als leicht wippende Dirigentengeste schräg nach oben gestreckt -, lässt sich aufrichten und in den Rollstuhl heben.
Als ich sie frage, ob ich ihr etwas vorlesen soll, schaut sie mich an, lächelt und deutet ein Nicken an.
Immer wieder unterbreche ich kurz, weil sich ihr Kopf  plötzlich von mir weggedreht hat. Dann folge ich eine Zeitlang ihrem Blick in unbekannte Weite.
Und male mir aus, dass sie ihn vielleicht zurückwendet zu dem Zug, in dem sie war. Einfach um nur mal zu schauen, ob er noch da ist.
Mich wird sie dort nicht mehr sehen. Ich bin nicht mehr auf dem Bahnsteig. Ich bin ja hier.

Abschied aus Anderland

Nun wird sie also bald auch Anderland verlassen. Ihr Bett ist schon im Zug. In einem menschenleeren Bahnhof mit nur einem Gleis. Auf dem Bahnsteig: Ich. Ratlos. Fragend. Traurig.
Ich sehe sie an, – dort hinter den von Dunst und Staub eines langen Lebens trüb gewordenen Scheiben. Bin unentschlossen. Nochmal rein zu ihr? Ihr die Hand reichen? Hab keine Angst, ich bin bei dir. Oder lieber am Rand bleiben? Den Zug abfahren lassen? Ihn nicht aufhalten? Manchmal fange ich ihren Blick. Freue mich, wenn ihre Augen in plötzlicher Heiterkeit aufklaren und sanfte Lächelfalten über ihr Gesicht verteilen. Ganz langsam. Auf dass ich ja jede einzelne mitbekäme. Stolpere aus dieser Wonne heraus und merke auf, wenn sie kurz danach plötzlich ihren Kopf abwendet, als fiele ihr etwas ein, dem sie nun ungestört ihre Aufmerksamkeit widmen müsse.
Unablässig brummen Gedankenkreisel mir durchs Gemüt. Ihre Hand nehmen? Ihren Blick wieder zurückholen? Etwas sagen? Ihr etwas erzählen? Gute Laune verbreiten? Meine Trauer zeigen? Im Hintergrund bleiben? Ganz rausgehen? Was wäre jetzt gut, richtig, sinnvoll? Und keine Idee, wonach ich das beurteilen könnte.

Irgendwann erinnere ich mich: Haben wir das nicht trainiert? In all der Zeit, die sie nun schon in der Demenz lebt? Habe ich nicht geübt, das Leben mit ihr zu lassen, wie es ist. Und wie es nicht ist. Nichts zu wollen. Nichts zu müssen. Einfach da zu sein und sie zu beobachten. Und dieses Leben. Und mich.

Und dann sehe ich sie an. Lasse fragende Gedanken, was jetzt richtig wäre zu tun, einfach weiterziehen. Wie beim Meditieren. Sehe kleinste Veränderungen in ihrem Blick. Registriere, wenn ich das Gefühl habe, sie schaute mich an. Oder sie schaute an mir vorbei, um mich herum ins Weite und zugleich nach innen. Nehme meinen ganzen Mut zusammen und höre ihrem Husten zu. An dem ich nichts ändern kann. Und so gerne würde. Von dem ich phantasiere, es müsse sie quälen. Was sie aber gar nicht zum Ausdruck bringt. Sie wirkt eher, als würde sie es hinnehmen, wie man das Leben eben so hinnimmt. Dieses Husten, das gerade allmählich kraftloser wird, abflaut zu einem müder werdenden sanft simmernden Schrundeln ihres Atems, das unablässig den Schleim in ihren Bronchen umwälzt. Dann plötzlich wieder ein Aufbäumen des Hustens, an dessen Ende manchmal ein hellstimmig singendes „Ho, ho, ho, ho“ die Rutschbahn der Erleichterung hinabhüpft. Dann sehe ich sie förmlich vor mir, wie sie die Hände an der vorne zusammengeknuddelten Schürze abtrocknet und anschließend mit einem Handrücken eine Strähne aus der Stirn wischt.

Dies Da-sein, ohne etwas zu wollen, stattdessen meiner Intuition zu vertrauen, schenkt mir manchmal Momente von tiefer Rührung. Einmal hat sie die Augen geschlossen, schläft aber nicht. Sie singt immer wieder einen Ton vor sich hin. Unterbricht ihn bei einem Hustenschub. Wartet nach seinem Ende. Setzt exakt denselben Ton wieder an. Er ist zu mild, um ihn klagend nennen zu können. Er klingt eher wie unbegleitet aus der Litanei des Lebens geschlüpft. Beim dritten Mal singe ich ihn mit. Einfach so. Ich spüre, wie ich die Stimmbänder anspannen und den Atem beisammenhalten muss. Ich habe die Phantasie, dass dieses Zusammenhalten ihren Husten vielleicht noch anschubst. Also singe ich den nächsten Ton tiefer. Mit deutlich mehr Hauchen und deutlich weniger Stimmbandspannung. Und sie macht tatsächlich genau diesen Ton nach! Wieder einen Ton tiefer. Mehr Hauchen. Sie folgt mir wirklich hinab. Am Ende bleibt bei uns beiden nur noch ein Hauchen. Ihr Atem ist flach. Zu flach um das lauernde Husten zu wecken. Tiefe Ruhe breitet sich aus. Auch ihr höre ich zu. Lasse den Gedanken, wie es sich wohl anfühlt, wenn der nächste Atemzug der letzte wäre, einfach weiterziehen. Ich meditiere ja.  Ich muss nichts.

Manchmal hebt sie plötzlich ganz langsam ihren rechten Arm, so weit, bis er leicht federnd schräg von ihr weg in den Raum ragt. Dann schließen sich Daumen und Zeigefinger zu einem Oval. Und das lässt sie langsam kreisen, als würde sie ein Orchester bei einem sehr langsamen, wiegenden Adagio dirigieren. Einmal reiche ich ihr mit einem Löffel Grießbrei. Ganz selten nimmt sie etwas, meistens nicht. In meiner linken Hand der Teller, in meiner rechten Hand der Löffel. Beide Unterarme auf der Bettumrandung. Sie sind zu schwer, um sie bei diesem langwierigen Unterfangen frei hochzuhalten. Wieder bewegt sich ihr rechter Arm aufwärts, beginnt sein Dirigat. Und während ich ein weiteres Mal den Löffel auf ihren Mund zu bewege, sehe ich im Augenwinkel, wie sich plötzlich der Arm auf meinen Kopf zu bewegt. Wie von selbst kommt mein Kopf ihr entgegen. Mit eigentlich kaum möglicher Entschlossenheit schnappen plötzlich Daumen und Zeigefinger meine Nase. Knabbern an ihr herum. Unwillkürlich muss ich lauthals lachen. Wieder verteilen ihre Augen dieses sonnige Lächeln über ihr Gesicht.

Ein weiteres Mal sind – schlaflos – ihre Lider geschlossen. Ihr Mund zermalt die Trockenheit. Ich bewege trotz der geschlossenen Lider den Trinkbecher auf ihren Mund zu. Und wirklich: Er öffnet sich wie auf ein geheimes Signal hin ganz kurz, bevor der Becher die Lippen berührt. Obwohl sie doch eigentlich gar nicht wissen kann, dass der Becher jetzt da ist. Lässt den Schnabel der Tasse hinein, umschließt ihn und signalisiert mit einer minimalen Bewegung im Mundwinkel, dass ich ihn wieder herausnehmen kann. Ein filigranes Zusammenspiel von Geben und Nehmen. Ohne Aufwand. Ohne Plan. Wie ein Regentropfen, der von einem Blatt gleitet, am Stamm entlang. Immer weiter. Bis zu der Stelle, wo eine Wurzel ihn vielleicht gerade braucht.

Zum Abschied verneige ich mich immer. Buchstäblich. Mag sie es – vielleicht mit einer kleinen Genugtuung – nehmen als den freundlichen Diener eines wohlerzogenen Jungen.

Dann sage ich „Tschüss. Hab einen guten Schlaf.“
„Bis morgen“, sage ich nicht.
Obwohl ich insgeheim hoffe, dass ihr Zug auch morgen noch auf dem Gleis steht.