eins

Kern-leer-Plan

 
 

 

Whiskey Sorte, Traum

Heute Nacht – ein Traum.
Ich träume
– kein Scheiß! – einen Werbespot für Whisky.
Ein Bauernhof. Ein alter Bauer tritt aus einer Scheune. Er trägt eine bollerige, von Arbeit zerschlissene Jeans und eine hellblaue Arbeitsjacke. Trotz seines hohen Alters hat er dichtes helles Haar. Er ist ziemlich moppelig. Er hat ein rundes, freundliches, rosiges Gesicht.
Beim Aus-der-Scheune-gehen sagt er mit altersmüder, gebrochener Stimme in irgendwie norddeutschem Dialekt: „Hab kein‘ Durst mehr.“ Er scheint unendlich müde.
Schnitt.
Derselbe alte Mann. Er geht jetzt auf einer Kuhwiese und gelangt zu einem markanten Ort. Ist es eine Lagerfeuerstelle? Oder eine verrostete Kuhtränke? Weiß nicht. Bis auf eine glatte, hautfarbene Unterhose ist er nackt. In seiner breiten, müden Hand baumelt eine Whisky-Flasche. Er stellt sie auf den Boden. Ächzend und stöhnend beginnt er, sich niederzulassen. Liegt schließlich als dicker Fleischberg mit gemütlichen Fettwülsten auf der Seite. Lässt sich auf den Rücken rollen. Sagt dabei: „Nor Hunger.“ Es ist die Fortsetzung von „Hab kein‘ Durst mehr“ und bedeutet: „Auch keinen Hunger mehr.“ Er legt sich nieder zum Sterben. Ich weiß das.
Sein Sohn tritt ins Bild. Er ist um die 50. Nackt. Drahtig. Weiße Haut. Ihr Kontrast mit der dunklen Körperbehaarung betont  die Nacktheit. Freundliches Gesicht. Große, klare Augen. Fast schwarze strubbelige Haare auf dem Kopf und im hageren Gesicht. Ich registriere, wie aus dem  Dickicht der Schamhaare sein Schwanz herausbaumelt. Er ist nicht beschnitten.
Etwas abseits links von dem Alten lässt auch er sich nieder. Lächelt ein freud-faltiges Lächeln. Er sitzt und lehnt sich an den Zaun. Es ist ein ganz normaler Draht-Zaun, wie er eben um Kuhwiesen steht. Ich denke im Traum: Das muss doch in die Haut schneiden.
Das Bild konzentriert sich wieder auf den sterbenden Alten, zoomt dann auf die Flasche. Ich kann das Label inclusive Namen deutlich erkennen. Behalte es sogar.
Noch im Traum denke ich, dass es ganz schön gewagt ist, mit dem Sterben zu werben.
Und ich frage mich, ob es wohl gut ist sich zu betrinken, wenn es soweit ist.
Dann wache ich auf.

Ein Ereignis, das mich freudig lächeln lässt, heute Morgen:
Es ist unversehens zu einem Ritual geworden, am Morgen schnell mal eben den Tablet-PC einzuschalten und die latest „Bing“-News zu lesen.
Ich überschlage die neuesten Nachrichten zu den Koalitionsverhandlungen, zum Wiederauftauchen von Hamed Abdel Samad, der gestern in Kairo verschwunden war. Großes Kino in großen Artikeln: Ob da wohl wieder die bösen, bösen Islamisten am Werk waren und den lieben, lieben Islam-Kritiker entführt haben? Großformatiges Parlando gestern, kleine Nachrichten-Notiz heute – er ist wieder aufgetaucht. Keine weitere Informationen…
Sowas also überschlage ich, um gleich zum wirklich Wichtigen weiterzuscrollen, – dem Sieg des BVB am Vorabend gegen Neapel. Wie Millionen anderer habe ich gestern Abend alles Mögliche angestellt, um davon Bilder zu sehen.
Natürlich will ich heute an den überaus wichtigen Nachbesprechungen teilhaben.
Und ich finde? Nichts! Tatsächlich nichts! Außer einem Vorbericht darüber, welches Ergebnis welche Folgen hätte in der Gruppe. Es ist 7:26. Das Spiel ist zwei Internet-Ewigkeiten vorbei und ich finde – nichts!
Himmlische Ruhe.
Es ist tatsächlich möglich, dass ein Ereignis von so hohem öffentlichem Thrill heute in BING nicht stattfindet??!!
Vielleicht hab ich das Spiel ja auch nur geträumt.
Und so kann ich wieder mal machen, was ich in den „guten alten Zeiten vor BING“ oftmals schön fand: Im Dunkeln am Küchentisch sitzen, einen Kaffee schlürfen und schlaf-dämmerich räsonnierend vor mich hinglotzen. Allein mit mir und meinen – meinen! – Gedanken.

In diesen Tagen werde ich wieder daran erinnert, dass ich beinahe nicht gewählt hätte. Ein Politiker namens H.Seehofer brennt mir tiefe Abneigung gegen diese Art von Demokratie ins Gemüt. Welche Art? Rückblende:

Nach drei Wochen Italien nähern wir uns auf der Rückfahrt der deutsch-österreichischen Grenze. Wir freuen uns, wieder mal deutschsprachiges Radio hören zu können. Kurz bleiben wir hängen bei einer gut gelaunten österreichischen Moderatorin, die  „totaal begäästert“ von irgendeiner Musiktitel-Beliebtheits-Umfrage erzählt. Und – Mensch! – eine österreichische Schlagersängerin hat da den 6. Platz erreicht. Wow!. Und damit wir das richtig verstehen, wie toll das ist, gibt es noch O-Ton der österreichischen Schlagersängerin. Und die findet das  „uunfossbo gääl“. Sie sagt wirklich die Worte „unfassbar“ und „geil“.
Wir lachen und betätigen die Sendersuche, währenddessen wir alles, was wir sehen „uunfossbo gääl“ finden. Den schwarzen Oldtimer, den wir gerade überholt haben, das Grün des Notausgangsschildes im Tunnel, unser Radio … hey, sag mal wie findest Du eigentlich den Knauf am Schaltknüppel? … kichern … uunfossbo gääl.
Ein bayrischer Radiosender. Immerhin gerade kein Gedudel, sondern ein Wortbeitrag. Es ist Wahlkampf. Bayern wählt und dann die Bundesrepublik. Und es geht um den Vorstoß des Politikers H.Seehofer. Er möchte die (Bundestags-) Wahl gewinnen und dann eine Maut für Ausländer einführen. O-Ton.  „Dess koan jo nned oangehe, doaß mia rund um uns härrrum in oandere Länder zoaln miasse, un die zoaln koan Cent, wann die unsere Autoboan benutzn, un des wo mir a ßo a wichtiges Trrranßit-Land san.“ Etwa so. Was wirklich fällt, sind die Worte „wir“ und „uns“ und „die„. Ich überlege kurz. In meiner inneren Europakarte steht es unentschieden. Ich habe in Holland, Belgien und Luxemburg  nicht bezahlt, in Italien, Frankreich, Österreich, Schweiz schon. Ich weiß nicht, wie es in Polen und Tschechien ist. Weiter weg – auch wenn es nicht „um uns herum ist“, – aber Europa: In Spanien schon. Wie war das damals in Dänemark? In Schweden? In Norwegen?  Weiß nicht mehr. Ich glaube, keine Maut. Meine kleine unsaubere Statistik kommt zu dem Ergebnis: Auf jeden Fall ist „überall“ nicht richtig. Also ist das Wort falsch. Es ist vielleicht sogar besonders falsch, weil es vielleicht „um uns herum“ mehr Länder gibt, in denen wir nicht zahlen.
Ich frage mich, warum mich dieser Beitrag so überaus, – ja, – abfuckt. Vielleicht deshalb:  Wo um uns herum kassiert wird und wo nicht, weiß der Politiker H.Seehofer wahrscheinlich besser als ich. Er wird auch wissen, dass das europäische Parlament einer „Maut für Ausländer“, die wir nur von denen kassieren, niemals zustimmen würde. Trotzdem macht er diesen Vorstoß und „argumentiert“ so, wie ich es gehört habe. Warum? Willkommen in der Wirklichkeit, trotzkopfdumm, denke ich! Das mit den zwei Fliegen …:
Der Politiker H.Seehofer ahnt, dass es eine nennenswerte Zahl von Wählerinnen und Wählern gibt, die genau das auch total ungerecht finden, dass wir überall zahlen müssen und die bei uns nicht. Schmarotzer!
Und er ahnt, dass viele ihm das hoch anrechnen, dass er sich gegen den Rest Europas für uns einsetzt. Dass er etwas fordert, was total gerecht ist, auch wenn die anderen das nicht wollen, weil sie eben weiter schmarotzen wollen, … gar nicht so einfach, solche vermuteten dumpfen Gedankengänge zu zitieren.
Landesvater Seehofer.
Es geht um das Aufgreifen und Nutzen von Stimmungen. Es geht nicht um ein Problem oder ein Projekt oder eine Vision. Es geht nicht um eine Maut.

Ich habe dann doch gewählt.
Und darf nun seit siebzehn Tagen – so lange dauern jetzt die Koalitionsverhandlungen – erleben, dass das Thema „Maut“ einer der zentralen Punkte dieser Verhandlungen ist.
Vielleicht war es damals, als ich so abgefuckt war, doch noch komplizierter. Vielleicht war von Anfang an klar, dass es um die Frage geht, wie man zur Sanierung der maroden Infrastruktur in Deutschland mehr Geld in die Staatskasse bekommt, ohne die Bürger zu belasten.  Vielleicht war von Anfang an klar, dass man die Maut nur von allen verlangen kann. Vielleicht war von Anfang an klar, dass eine Lösung sein könnte, zum Ausgleich dann die KFZ-Steuer zu senken. Vielleicht war von Anfang an klar, dass andere „Geldbeschaffungs“-Aktivitäten kaum möglich sind, weil von Anfang an klar war, dass das Polit-Spiel auf eine große Koalition hinausläuft. Und vielleicht war von Anfang an eben nicht klar, wie man es hinkriegt, einerseits zusammen zu regieren, andererseits aber den anderen für die unangenehmen Sachen den Schwarzen Peter … Dann doch lieber gleich nur bei den Ausländern kassieren …
Ich bin sicherer denn je, dass ich eine solche Art von Demokratie eigentlich nicht unterstützen möchte mit meiner Teilhabe.

Heute ist der 9. November. Ein wichtiger Tag in der Geschichte des dritten Reichs. Ein wichtiger Tag auch in der Geschichte der DDR.
Da wird der eine oder andere Wortbeitrag heute im Radio zu hören sein. Und er wird sicher auch des öfteren das Wort „Demokratie“ enthalten.

Heute Nacht ein Traum. Ich sitze auf einer Liege, wie sie in älteren Praxen von Physiotherapeuten stehen. Plötzlich kommt mein Bruder. Ich erschrecke sehr. Das kann nicht sein. Er ist doch tot. Er setzt sich neben mich. Lächelt wie er eben immer gelächelt hat. Blaues Poloshirt mit irgendeiner Beschriftung. Mir fällt auf, dass ich das gleiche trage. Hab ich das im Traum wirklich so gedacht?: „Das kann doch gar nicht sein. Wie geht das? Er rät mir mit großem mildem lächelndem Ernst, dass ich jede Sekunde meines Lebens genießen soll.“
Der Schrecken ist verflogen.
Ich nehme seine Aufforderung mit in den Tag. Was mir jetzt beim Schreiben ein wenig lächerlich vorkommt, ist seither von großer Bedeutung. Macht der Gedanken … Immer wieder halte ich inne, sehe ihn, wie ich ihn im Traum sah und denke ‚ach ja, … jede Sekunde genießen…‘ – und muss lächeln.

Die Aufnahme ist gemacht. Warten. Dann bittet eine Ärztin meine Mutter und mich zu sich in … ja in was? Ist es ein Büro? Ist es eine Besenkammer? Für’s erste zu klein, für’s zweite dann doch zu eingerichtet. Die Ärztin klickt ein wenig durch die gerade gemachten CT-Bilder. „Also, es ist kein Krebs oder so was. Aber man sieht hier an den dunklen Flecken, dass relativ viel Hirnwasser vorhanden ist. Das ist manchmal im Alter so. Dann sammelt sich das an. Man kann da mit hirnwasserentlastenden Medikamenten arbeiten. Aber Therapie mach ich nicht, das macht der – wer hat sie geschickt?“ Das Gespräch dauert vielleicht zweieinhalb Minuten. Dann sind wir wieder draußen. „Wenn Sie 10 Minuten warten, können Sie den Befund direkt mitnehmen.“
Ich frage mich, wie das Ganze wohl abgelaufen wäre, wenn auf dem Bild „Krebs oder sowas“ zu sehen gewesen wäre, und wie diese 10 Minuten dann gewesen wären.
Mein Mutter friert auf dem Heimweg. Es ist Herbst. Sie hat es eilig. Immer wieder gerät sie mit ihrem Rollator gefährlich nah an den Grasstreifen am Rand des Weges.