Tag 21

Ich schnappe irgendwo einen O-Ton auf, in dem die Kanzlerin ankündigt, dass wir alle und vor allem ältere Menschen bei unserem aktuellen distanzierten Kontaktverhalten bleiben müssen, bis es eine Impfung gebe.
Zum ersten Mal regt sich Widerstand in mir. Der Logik, dass die Menschen in Deutschland mithelfen sollen, dass sich das unausweichliche Infektionsgeschehen so verlangsamt, dass die Kliniken in Sachen Intensivpflege nicht überlastet werden, konnte ich folgen.
Der Sinn für Eigennutz eines weißen alten Mannes hilft mir. Wenn es bei mir soweit ist, möchte ich auch ein Beatmungsgerät bekommen.
Aber dieses Leben weiter, bis es einen Impfstoff gibt?
Dieser Art von eindimensional linear denkender „Natur“wissenschaftlichkeit sträube ich mich zu folgen. Wir sollen mit domestiziertem Abstands-Verhalten weitermachen, bis Mediziner das Virus „besiegen“? Was vielleicht in einem Jahr der Fall sein wird? Uns selbst beschränken auf der Basis von verengtem Ursache-Wirkung-Lösung-Denken? Nach dem Verfahren: Wenn ich schwitze, nehme ich Deo. Wenn es kein Deo mehr gibt, sorge ich dafür, dass ich nicht mehr schwitze. Oder mich keine/r mehr riecht.
Ich frage mich, wie lange ich das wohl mitmache. Und frage mich, ob es richtig war, das bisher so brav mitgemacht zu haben. Und frage mich, ob wohl dann ältere Menschen zur Impfung verpflichtet werden? Und fange an, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich vielleicht irgendwann das Risiko eingehen will, schwer krank zu werden. Und tröste mich mit dem Gedanken, dass ich ja immer in dem Risiko gelebt habe. Ich konnte es nur leichter verdrängen. Ja, es gibt die Möglichkeit, an der durch diesen Virus ausgelösten Krankheit zu sterben. Andererseits: Es gab schon viele  Möglichkeiten zu sterben in meinem bisherigen Leben. An manche kann ich mich erinnern. Von anderen weiß ich gar nichts. Das ich jetzt zusammen mit Millionen anderer auf der Welt täglich Tote zähle, macht das allein schon wahrscheinlicher, dass auch ich demnächst dran bin? Und bin ich das nicht sowieso?
Und wenn ja, – wie will ich bis dahin leben?