Aleppo
Morgens im Radio höre ich mit einem Ohr die Nachrichten. An einer Stelle bin ich plötzlich ganz dabei und stutze. Aber dann ist es auch schon zu spät. Die Nachricht ist vorbei.
Habe ich das richtig gehört?: Aleppo droht eine Belagerung von drei Seiten? Auf der einen Seite vom IS, auf der anderen von den regierungstreuen Assad-Truppen, auf der dritten von – ja, ich hab das so gehört! – den Kurden?
Das nun bringt mich total durcheinander. Moment …, die Kurden, waren die nicht gegen den IS und gegen Assad? Waren nicht überhaupt IS und Assad auch Feinde? Wurden uns nicht eine ganze Zeitlang die Kurden als letzte aufrechte, moralisch integre Helden in diesem schmutzigen Krieg verkauft? Bärtige ausgemergelte Gesichter, die bereit sind für die gute Sache zu sterben? Also für uns. Und denen „wir“ deshalb auch Waffen geben? Und die „wir“ deshalb auch daran ausbilden.
Schon der Klang ihres Stammesnamens: ‚Peschmerga‘. Das klang doch nach Karl May, nach Robin Hood und ein bisschen nach Guevara.
Und nun helfen die, Aleppo zu belagern, also die Stadt, die nun jetzt gerade medial die geschundene Stadt ist? Von Assad und IS gleichermaßen gequält. Schlimmer geht es ja kaum. Oder sind das wieder andere Kurden?
Am Wochenende danach versuche ich, mir selbst die Sache aufzuklären. Und lerne dabei. Erstens ist es kaum möglich, überhaupt eine Quelle zu finden, die es sich zur vornehmen Aufgabe gemacht hat, die Schattierungen dieser Konflikte, die für mich medialen Deppen immer verständlich – und damit falsch – gemacht werden müssen, realitätsgetreu mit all ihren Widersprüchen darzustellen.
Und zweitens: Was ich dann verstehe, verstehe ich nicht.
Aleppo ist offensichtlich eine geteilte Stadt. Ein Teil wird von Militär beherrscht, das Assad treu ist. Ein anderer Teil wird von Kämpfern beherrscht, die gegen Assad kämpfen. Diese letzteren werden in den meisten Artikeln „Rebellen“ genannt.
Genau diese halten nun einen Flugplatz besetzt. Und genau den wollen die Kurden erobern. IS und Assad wollen die Stadt von den Rebellen überhaupt ‚befreien‘. Und dabei erhalten sie Bombenhilfe durch russische Kampfflugzeuge.
Ich frage mich: Was passiert nun eigentlich, wenn die Kurden diesen Flugplatz erobern? (Wohlmöglich mit deutschen Waffen?) Können dann die russischen Kampflugzeuge darauf landen? Und wenn gleichzeitig der IS einen weiteren Stadtteil von Rebellen ‚befreit‘, wird dann bei Kurden und Assad gleichermaßen gejubelt? Und wenn dann die IS-Flagge gehisst wird, erzürnt das dann doch die Kurden und die Assad-Truppen? Und wenn ja, was passiert dann? Neue Kämpfe? Und wer wird dann umgebracht? Dieselben Menschen, die jetzt auch schon umgebracht werden? Und ist all dieses Umbringen vielleicht schon jetzt nur noch symbolisch? Ist Sieger, wer die meisten umgebracht hat?
Nach zwei Stunden Recherche gebe ich auf. Meine Gedanken schwirren. Sie wissen nicht, ob sie mitfühlend und suchend sich weitertasten sollen oder sich zynisch abwenden oder verzweifelt einfach nur im Dunkeln warten, bis das Schlimmste vorbei ist.