21. September
(Vibo Valentia – Vibo Marina)
Dieser Abschied beginnt mit einem liebevollen Willkommen.
Wir sind ein bisschen spät dran. In ganz schicker Schreibe könnte es jetzt heißen: Wir sind schon so lange in Italien unterwegs. Unsere Lebensweise ist schon italienisch geworden. Man ist schon mal ein wenig spät dran. Meistens cinque minuti. Eine Zeitspanne zwischen 3 und 30 Minuten. So wie trecenti metri – dreihundert Meter – eine Strecke zwischen 300 m und 1,3 Kilometer ist.
Aber das wäre romantisch angeberischer Quatsch. Wir haben einfach die Dauer des Weges zum Bahnhof falsch in Erinnerung.
Als wir ankommen, sitzen Marion und Martin schon vor dem Bahnhof auf einer Bank. Martin hat die Arme nach hinten gestreckt. So kann er den Oberkörper ein bisschen nach hinten biegen. Der Sonne präsentieren. Marion liegt auf der Bank. Der Kopf auf Martins Oberschenkel. Die Beine baumeln am Ende herunter. Die Beiden haben sich diese Zeit mitten aus Alltags- und Berufs-Betriebsamkeit herausgeschält. Jede Minute Ruhen unter südlicher Sonne zählt. Martin bezeichnet es als „Vollbremsung aus voller Fahrt“.
Wir haben einander fast zu viel zu erzählen. Die Worte strudeln heraus und herum und genauso oft stauen sie sich. Am Schiff angekommen aber werden sie sparsamer. Es wird ein bisschen ernst. Abschied weht umher.
Ausgerechnet kurz vor ihrer Segelwoche mit uns hat Marion sich das linke Handgelenk gebrochen. Ausgerechnet in einem Moment heiterer vorfreudiger Ausgelassenheit. Sie darf den Arm zwar bewegen, sie darf aber auf keinen Fall bei einer plötzlichen Auffangbewegung sich mit diesem Handgelenk abstützen.
Sie will aber auf ein Segelboot. Da macht man unablässig solche Bewegungen.
Es hatte im Raum gestanden, das Segeln abzusagen. Da sie aber ohnehin den Flug nicht gecancelt hätten und so oder so hierhin nach Süditalien geflogen wären, haben wir gedacht: Warum dann nicht auch einfach gucken, was wie geht und was nicht? Und erst dann entscheiden, ob wir uns vom gemeinsamen Segeln verabschieden.
Die Entscheidung steht jetzt an. Der Reihe nach probiert Marion, probieren wir alle möglichen Gefahrenquellen aus: Den Weg über die Gangway. Sie verlangt Respekt. Sie fordert Dein Gleichgewicht heraus. Sie bewegt sich mit dem Schiff, nicht mit dir. Sie ist oft steil. Sie hat ein Gelenk in der Mitte. Sie hat kein Geländer.
Vier Martinhände am Anfang und am Ende als Sicherheit helfen. Gangway geht. Jedenfalls hier bei ruhigem Wetter.
Niedergang testen. Die kleine enge Treppe nach unten ins Schiff hat auf zwei Stufen rechts und links je eine Stützstrebe, die auf die Trittfläche ragt. Man tritt aus Versehen darauf und kommt aus dem Gleichgewicht. Außerdem sind die Stufen nicht besonders tief. Mit zwei Armen, die die Griffe rechts und links nutzen können, hüpft man hier locker runter. Die Ankunft von Marion hat mich bewegt, mich selbst mal beim Runterhüpfen zu beobachten. Witzig: Ich betrete die Treppe vorwärts vom Cockpit aus, drehe mich auf der zweiten und dritten Stufe um und nehme die letzte Stufe dann rückwärts. Ohne Marion wäre mir das wahrscheinlich 3 Monate lang gar nicht aufgefallen.
Niedergang geht.
Kabine, die kleine Badkammer, die Wege im Salon, – alles geht.
Am Nachmittag fahren wir ein bisschen raus und kreuzen in der Bucht von Vibo Marina. Sehen, wie es geht, wenn das Schiff in Segel-Bewegung ist.
Auch das geht. Jedenfalls bei ruhigem Wetter.
Bei der Rückkehr bekommen Marion und Martin denselben Willkommens-„Cocktail“ wie wir: Crema mandorla con salsa al caramelle.
Willkommen und Abschied.
Auf dem Schiff muss Marion immer die Armbinde tragen, damit ausgeschlossen ist, dass sie den Arm benutzt. Während des Segelns muss sie an einem sicheren Platz sitzen bleiben. Falls wir ankern oder an eine Mooring gehen, wird sie nicht ins Dinghi gehen können. Das schwankt immer enorm, selbst bei ruhigem Wetter. D.h. sie wird auch dann das Schiff nicht verlassen können. Der Törn nach Stromboli z.B. ist damit so gut wie hinfällig, denn dort können wir nur an die Mooring. Abgesehen davon würde es mit der Rückreise für die Beiden schwierig.
Die Wetterprognose für die nächsten Tage ist gut für uns. Ruhiges Wetter. Wenig Wind. Sie gibt am Ende den Ausschlag, dass wir dabei bleiben: Wir werden zusammen segeln und freuen uns sehr.
Die Schönheit einer in Ruhe gefundenen Lösung.
Irgendjemand hatte den beiden den Rat gegeben, bloß nicht mit Menschen zu segeln, mit denen man hinterher noch befreundet sein wolle. Wir wissen nicht, was diesen Menschen zu diesem Rat bewogen hat. Wir wissen aber, dass er Blödsinn ist. Schon dieser Anfang beweist uns das.