„Glanz und Elend in der Weimarer Republik“

Frankfurt. Kunsthalle „Schirn“. Ich weiß gar nicht, warum. Vielleicht ist es auch nur der triste Himmel eines verregneten Februartages. Das Gebäude wirkt auf mich, als habe es einmal in den Gedanken der Architekt*innen ein prachtvolles Kunst-Beherbergungs-Gebäude sein sollen. Und dann ist es fertig geworden, und war genau das einfach nicht. Nun stand es aber da. Und wurde dann eben Kunsthalle.
Drei kleine Theken kamen hinein.
Eine für die Tickets, eine für den Verkauf von einigen wenigen der Kunst verpflichteten Devotionalien. Sozusagen als wenigstens kleine Reminiszenz an fulminante Museumsshops in anderen Häusern, die von Kunst-Liebhaber*innen durchstreift werden auf der Suche nach Mitbringseln, mit denen sie ein wenig Kunstschimmer in ihre Heime mitnehmen können.
Und eine für’s Aufreihen der Audio-Guide-Gerätschaften. Theken so klein, dass die zwei Personen, die dahinter sitzen oder stehen, schon fast ein wenig überdimensioniert wirken.
Ich erwische mich bei dem zynischen Gedanken, dass die Herrscher über die Bankpaläste in dieser Stadt sich bei diesem Gebäude dann eben doch haben lumpen lassen.
Andererseits: Ist es nicht eigentlich charmant, dass man es gerade nicht mit den aufgepimpten Glas- und Stahl-Palästen der Finanzwelt aufnehmen wollte? Dass man sich mit ihren pompösen Eingangshallen mit den mit sanftem Surren aufgleitenden Portalen und den herrschaftlich sich hindehnenden Empfangstheken gar nicht erst messen wollte?
Und erst recht passt ja die Gebrochenheit dieser Kunsthalle gut zu dem, was ich heute sehen möchte: Wie nämlich Künstler*innen sich mit dem Glanz und dem Elend der Weimarer Republik auseinandergesetzt haben.
Mit neugierigem, wachsendem Unbehagen schiebe ich an den vielen, irgendwie zu dicht beieinander hängenden Gemälden entlang. Unbehagen wegen der Enge, die hier herrscht. Viele Menschen sind da. Viele von ihnen mit Audio-Guides, die sie von der Außenwelt abschirmen und hier und da vergessen lassen, dass sie sich gerade in den Weg meines Blickes stellen. Unbehagen auch wegen der Bilder. Sie zeigen tatsächlich eine aus den Fugen geratende Welt. Mit schriller Schärfe glotzen fette Bonzen-Fratzen aus den Bildern, tummeln Prostituierte, Kriegsversehrte, zigarrenrauchende Fabrikanten mit Pelzkrägen, stechschrittige Früh-Nazis und allerlei andere aneinander leidende Gestalten aus den Bildern.
Und in sie hinein. Darf ich das denken? Unwillkürlich fange ich an, die Menschen um mich herum mit demselben Blick anzuschauen wie die Figuren in den Bildern. Eigentlich sehen wir alle heute genauso aus. Leben in ähnlichen Widersprüchen.

Mich eingeschlossen.

menschliches Gesicht Otto Dix

Der Blick bleibt. Auch als ich anschließend in dem Cafe um die Ecke sitze.
Kurz nach mir setzt sich ein Mann an den Tisch neben meinem. Er hat genau diese Ausstrahlung:

Gemälde Mann am Nachbartisch

Ein ganze Weile kaue ich darauf herum und frage ihn schließlich doch: „Ich würde Sie zu gern fotografieren. Wäre das in Ordnung oder ist es Ihnen unangenehm?“ Er sagt Nein. Ein kurzer Moment Verwirrung. Bezieht sich sein „Nein“ auf den ersten Teil oder den zweiten Teil der Frage? Ich schaue ihn an. Er schüttelt noch einmal den Kopf und sagt Nein. Sein Ausdruck, seine Haltung, – er möchte nicht fotografiert werden. Ist er genervt von der Frage? Findet er sie anmaßend? Ist das eine atmosphärische Störung, die da als kleine dunkle Wolke zwischen uns wabert? Ich weiß es nicht. Wir bleiben beide irgendwie alleiner als vorher zurück. Denke ich. Doch dann kommt die Kellnerin und bringt ein kleines Schälchen Sahne, das eigentlich zu meinem Stück Kuchen gehört. Aber sie stellt es auf seinen Tisch. Neben das gleiche Stück Kuchen. Er schaut von seiner Zeitung auf. Schaut auf die Sahne. Zögert. Sagt mit einem milden Lächeln: „Ich glaube, das ist Ihre“. Und reicht sie mir herüber. Ich sehe ihm an, dass er eigentlich auch gerne welche hätte und biete ihm an zu teilen. Das Lächeln öffnet sich noch ein wenig mehr. „Nein, nein, nehmen Sie. Ich hab einfach vergessen, auch welche zu bestellen.“ Das Wölkchen zwischen uns ist verschwunden.
Dann wendet er sich wieder seiner Zeitung zu. Das Lächeln bleibt.
Ich frage mich, ob es wohl möglich ist, die Menschen um mich herum mit dem Blick eines Grosz oder eines Dix zu sehen und sie zugleich zu mögen. In diesem Moment glaube ich: Ja.