Die Welt der Schönheit, der Kunst, der Kontemplation

Wir betreten ein Museum in Bottrop.
Ja, da gibt es sowas. Sogar ein sehr schönes. Zwei Karten. Die Ausstellung, die uns zuerst interessiert, liegt im hinteren Teil des Museumsbaus. Als wir den Gang dorthin betreten haben, kommt uns ein erwachsener Mann entgegen. Er ist edel und teuer mit zurückhaltendem Schick und einem Hauch Besonderheit gekleidet. Konkret in Erinnerung habe ich jetzt noch eine feine Schirmmütze aus Tweed und einen säuberlich in Form rasierten schwarzen Vollbart. Er schreitet energisch. Schaut sehr ernst. An seiner Hand hängt ein kleiner Junge. Auch der ist edel und teuer mit zurückhaltendem Schick gekleidet. Vielleicht drei Jahre alt. Sein Gesicht kann ich nicht sehen. Es ist mit Seitblick hinter dem Rand einer Kapuze versteckt. Der Griff des Mannes hat den rechten Oberarm des Jungen so umklammert, dass die Steppjacke  seitlich der Klammerhand Wülste bildet. Der Mann schreitet voran. Schaut voran. Der Junge schleppt hinterher. Die Art, wie er sich mit einer leichten seitlichen Rückdrehung dem Klammergriff des Mannes ausliefert, erzählt von stiller, kalter Rebellion. Beide schweigen. Dieses Schweigen schrillt kalt in stummer Gewalt.
Sie kommen uns entgegen. Passieren uns. Unsere Gedanken überschlagen sich. Wir sind innerlich zugleich aufgewühlt und erstarrt. Erst, als die beiden schon ein ganzes Stück Richtung Ausgang entschwunden sind, können wir wieder handeln. Wir beschließen hinterher zu gehen. Ist das eine Art Entführung? Ist das eine Bestrafung? Sind das Vater und Sohn? War es tatsächlich Gewalttägigkeit, die wir da gespürt haben? Oder ein Missverständnis? Als ich hinter dem Mann her das Museum wieder verlassen habe, sehe ich, wie der Mann gerade  die rechte hintere Tür eines schicken, teuren, schwarzen Geländerwagens öffnet, ohne den Griff am Oberarm des Jungen zu lockern. Der Junge steigt ins Auto. Obwohl der Junge sich nicht wehrt, spürt man seine eisige riesenkleine Empörung. Der Vater ist sehr lange in das Auto hineingebeugt. Dauert es wirklich so lange, den Jungen anzuschnallen? Schnallt er ihn überhaupt an? Dann wächst der Mann wieder aus dem Auto, tritt zurück und knallt die Tür zu. Mit einem Flappen und dem Aufblinken von Leuchten ist die Tür verschlossen. Der Vater schaut noch eine ganze Weile grimmig durch die Seitenscheibe dorthin, wo jetzt der Junge sitzt.
Schließlich wendet er sich abrupt ab und schreitet mit demselben energischen Schritt wie auf dem Weg zum Auto zurück zum Museum. Wieder kommt er mir  – nun draußen vor dem Museum – entgegen. Unsere Blicke treffen sich. Er schaut wieder weg. Ich gehe neben ihm und schaue ihn weiter unverwandt an. Ich weiß nicht, was ich sagen könnte, will aber auch meinen Eingriff in die Szene nicht einfach so beenden. Der Mann spürt wohl, dass ich ihn anschaue. Er dreht sich zu mir und sagt mit nur mühsam zurückgehaltener Verachtung „Bitte?“. Ich antworte: „Noch habe ich nichts gesagt.“ Wir stapfen weiter. Endlich habe ich eine Idee, was ich sagen könnte und frage den Mann: „Haben Sie eigentlich eine Vorstellung, wie sich das als Kind anfühlt, wenn man so angefasst wird?“
Sofort entspinnt sich, jetzt schon im Museum weiterschreitend, ein verbaler Schlagabtausch, dessen einzelne Sätze mir nicht mehr gegenwärtig sind. Ich kann mich nur noch erinnern, dass der Mann in kontrolliertem Zorn bebt. Mir scheint, er will mich unmissverständlich in die Schranken weisen und gleichzeit nicht soviel Aufsehen erregen. Auch ich selbst kann meinen Zorn nur schwer beherrschen, schaffe es aber. Er verlangt mit unterschiedlichen Formulierungen, dass ich mich da raushalten solle, ich verneine das immer wieder ruhig und stelle klar, dass ich mich in so einer Situation immer wieder einmischen werde, wenn Kinder so behandelt würden. Er zürnt, ich sei besser früher auch so behandelt worden, dann könnte ich mich jetzt benehmen. Das Agressionspotential der Szene steigt wieder. Gleichzeitig spüre ich, wie ich dem Mann ausgeliefert bin. Was mich auch zorniger macht. Erneute Eskalation droht.
Zum Glück mischt sich nun die Liebste ein. Sie sagt: Diese Szene wird sich jetzt nicht mehr auflösen lassen. Auch an ihre Worte erinnere ich mich nicht genau. Nur daran, dass sie auf eine unnachahmliche Art Partei für mich ergriffen und doch den Weg zum Notausgang zeigten.

Die Kunst anzuschauen, deretwegen wir eigentlich hier sind, ist lange nicht möglich. Ich bin so aufgewühlt wie selten. Bebe. Spüre mein Herz zu schnell und zu laut in meine Kehle hineinpochen. Zittere.

Und bin zugleich zutiefst irritiert. Ich habe es geschafft, mich nicht in Aggression zu verlieren und bin doch jetzt so verstört? Warum nur?
Noch lange reden wir immer und immer wieder davon. Andere vergleichbare Szenen fallen mir ein. Ist vielleicht die Konvention, dass man sich nicht einzumischen habe, so mächtig, dass es ernsthaft die innere Ruhe gefährdet, wenn man es doch tut?