Brandmauer

Im Juli 2023 schließt Friedrich Merz im ZDF-Sommerinterview eine Zusammenarbeit mit der AFD auf kommunaler Ebene nicht aus.
Im September 2023 bringt die CDU mit Hilfe der Stimmen der AFD unter dem Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke und mit Hilfe der Stimmen der FDP ein Gesetz durch, das die Grunderwerbssteuer in Thüringen senkt. Der Antrag ist eine Woche vorher durch Abstimmung der CDU, FDP und AFD im Landtag überhaupt erst möglich.
Das Wort „Brandmauer“ grassiert. Auch unter CDU-Politiker*innen.

Es gibt keine Brandmauer.
Vielleicht hat es nie eine gegeben.
Es gibt nur eine Attrappe.
Aus Pappmaché.
Als verschiebbare Theaterkulisse.
Ab und zu gibt es kleine Veränderungen im Volkstheater-Stück. Dann muss jemand nach vorne und einen feigenblättrigen Distanzierungstext aufsagen. Je nach aktueller Situation gegen Antisemitismus, gegen Nazismus, gegen Fremdenfeindlichkeit. Um eine Distanzierung von faschistoidem Denken zu betonen.
Wo es vielleicht gar keine gibt.
Wo sie nur haltlos beharrend beschworen werden muss.

Machen wir uns nichts vor: Früher oder später wird die CDU auch offiziell eine Koalition mit der AFD bilden. Den Testlauf gibt es schon. In Bayern. Dort regiert eine Art CDU mit einer Art AFD. Und dort kann man gut studieren am Humpen-gesteuerten Bierzelt-Getöse, dass hier ein Beschwören von Distanzierung nicht nötig ist. So ein bisschen faschistoides Geschwätz, so ein bisschen antisemitisches Flugblatt in der Jugend, – ist ärgerlich – Kurzauftritt vor der Pappmaché-Kulisse –, kann man aber verschmerzen, wenn die Richtung stimmt. Und hinter vorgehaltenem Stirnlappen denkt man vielleicht grinsend: Hä, hä, ganz schön frech der Aiwanger-Hubert!

Ich fürchte, die Wahrheit ist leider: Die AFD hat sich längst als politischer Mitspieler etabliert. Sie hat sich in Manchem sogar schon durchgesetzt.

Sie hat die Dummheit, mindestens als Rede-Gestus, hoffähig gemacht. Inklusive des aus ihr erwachsenden schein-eloquenten Volksstimmen-Gestammels. Zum Beispiel, wenn der Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag behauptet, der Ausbau der Autobahnen sei „am Ende des Tages“ gut für den Klimaschutz, weil dann die Autos nicht mehr im Stau stünden und dabei sinnlos CO2 in die Luft bliesen. Oder wenn Politiker*innen immer häufiger vulgäre Formulierungen benutzen wie „die Schnauze voll“ oder „bekloppt“.
Sie hat hoffähig gemacht, biestigen, schlecht gelaunten Ärger ohne auch nur einen Hauch von Sprach-Besonnenheit, gerne garniert mit dem Konjunktiv II, vorzutragen, als wäre das schon ein tragfähiges Programm zur politischen Gestaltung dieser unendlich komplexen gesellschaftlichen Prozesse, die gerade im Gange sind bzw. bald im Gange sein werden.
Sie hat hoffähig gemacht, in bitterer Verallgemeinerung die gerade am schlechtesten angesehenen gesellschaftlichen Gruppen mit dem Begriff „die“ zu verunglimpfen und den Bild-Zeitungs-Mob auf sie zu hetzen. „Die“ da in Berlin, die nichts auf die Kette kriegen, die sich nur streiten, und dringend mehr Führung bräuchten, – um nicht zu sagen: einen echten Führer. „Die“ da, die „uns“ links-grün-versifft bevormunden wollen. „Die“ da, die sich in der Zahnarzt-Praxis die Zähne machen lassen, während „wir“ – das Gegenteil von „die“, also die Guten – keinen Termin kriegen.
Sie hat hoffähig gemacht, die Existenz von Verboten zu behaupten, wo gar keine sind. Um dann – die letzten Verteidiger der Freiheit! – gegen sie zu kämpfen. Es wird niemandem vorgeschrieben, das Gender-Sternchen zu benutzen. Es wird nur hin und wieder darauf hingewiesen, dass zwischen männlich und weiblich eben doch von vielen Menschen andere Schattierungen erfahren werden. Das ist einfach kein Verbot. Sondern eine Anregung. Eine Frage, ob wir unsere Sprache angesichts dieser Tatsache nicht toleranter gestalten könnten.
Sie hat hoffähig gemacht, jemandem, der nach Worten sucht, der differenziert versucht, komplexe Zusammenhänge zu erklären, vorzuwerfen, er schwafele herum. Es könne doch alles viel einfacher sein, wenn man dem „gesunden Menschenverstand“ folge. Dabei könnte man doch wissen, dass der „gesunde Menschenverstand“ – auch der eigene, trotzkopfdumm – manchmal nur sehr kurz springt, weil der Horizont direkt hinter dem Brett vor dem Kopf endet.
Sie hat hoffähig gemacht zu lügen. Um dann, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird, so lange einfach immer wieder dasselbe zu behaupten, bis der Geruch der Lüge verflogen ist, weil die Medienmaschinerie zu anderen Aufregern weitergezogen ist. Oder aber – erwischt beim Lügen – sich selbst zum Opfer einer Kampagne zu stilisieren. Herr Merz behauptet, abgelehnte Asylbewerber bekämen „voll Heilfürsorge“ und ließen sich die Zähne machen und die Deutschen „nebendran“ bekämen gleichzeitig keine Termine. Das ist schlicht falsch. Abgelehnte Asylbewerber*innen bekommen keine „volle Heilfürsorge“, sondern nur eine Notversorgung. Als das aufgedeckt wird, tönt er, man müsse nicht gleich „Schnappatmung“ bekommen, wenn mal jemand Fakten zugespitzt zur Sprache bringe.

Man muss ihnen zuhören, – den Aiwangers und den anderen Ton-Nachahmern der AFD. Dann hat man sogar manchmal – ganz versteckt – kleine Momente von Heiterkeit, wenn sie sich verhaspeln. Wenn die Wörter sich wehren. Wenn sie der Wahrheit verpflichtete Eigenregie übernehmen. In der Rede unmittelbar nach seiner Nicht-Entlassung wegen eines von ihm als Jugendlicher verfassten, oder doch nicht oder nur vielleicht verfassten antisemitischen Hetz-Flugblattes, wettert Herr Aiwanger gegen alles Mögliche „Zeitgeistige“. Und dann sagt er:  „… dass wir für Meinungsvielfalt stehen, dass wir nicht zulassen, dass hier die Schlinge immer enger gezogen wird, dass in dieser – (kurzes Zögern) ja, vielleicht: vorgegebenen Meinung  –  immer mehr gesagt wird, was man nicht mehr tun, denken und sagen darf.“ Da spielt ihm die Sprache einen Streich. Das von ihm bekämpfte Verbot ist doch nur, – na ja, also … – „vielleicht“ eine „vorgegebene Meinung“.
Also keine vorgegebene.

[Screenvideo, Ansicht Youtube-Video, 26.10.2023]