Tag 45

Tourette-Routine

Es nervt. Aber ich will es vor mir selber nicht zugeben. Das Bild zeigt abwechselnd eine Frau, die spricht und einen Mann, der unablässig zuckt und Geräusche von sich gibt. Schnalzen, Miauen, manchmal auch wortähnliche Laute.
So beginnt eine Aufführung von Rimini-Protokoll, die wir anschauen. Obwohl wir wissen, dass an dem Stück Menschen mit Tourette beteiligt sind, fragen wir uns beide angesichts des zuckenden und maunzenden Mannes: Ist das echt? Oder ist es „nur“ „Theater“?
Und wenn es echt ist, ist es dann kein Theater? Wir gestehen uns, dass es nervt. Das hilft durchzuhalten.
Und auch das Szenario stellt die Theater?-Frage. Klar, es ist Theater. Es gibt eine Bühne, es gibt provisorisch schräg aufwärts gebaute Zuschauerränge, es gibt Beleuchtung, es gibt Bühnenarbeiter.
Aber es gibt auch ein großes Tor, durch das schon am Anfang des „Stückes“ ein echtes Auto fährt. Der Raum ist also ebenerdig. Eine überdimensionale Garage. Nur eben nicht verschlossen privat, sondern öffentlich.
Also kein Theaterstück im üblichen Sinne. Obwohl auch das schon falsch ist. Theater ist schon lange nicht mehr nur im ehrwürdigen Plüsch-Theater üblich.
Wir erleben 4 Menschen. Eine Frau, drei Männer. Laut Programmankündigung haben alle drei Männer „Tourette“. Sie haben Ticks. Die Frau ist eine Musikerin, die auch mit-„spielt“, und deren Musik weit mehr ist als Hintergrund. Sie ist Teil der Handlung bis hin zum Lied. „Ein Tick“ Musical, ein „Tick-Musical“.
Irgendwie spielen die Vier nicht. Aber irgendwie doch. Sie erzählen, wie ihr „Stück“ entstanden ist, wie es sich entwickelt hat und was es für sie bedeutet, jetzt hier zu sein. Dabei folgen sie einer Art Choreographie, die verabredet ist, von der sie aber alle auch sagen, dass sie sie jederzeit verlassen können, wenn sie es nicht mehr aushalten. Das sei Teil der Verabredung. Und zum temporären Verlassen laden sie auch die Zuschauer*innen ein, – falls sie es mal nicht mehr aushalten. Warum dann nicht kurz einhalten und rausgehen? Draußen gebe es auch was zu trinken.
Der maunzende, schnalzende Mann am Anfang nervt. Es fällt schwer, der Frau, die redet, zuzuhören. Aber wir halten durch und stellen, als das Stück zu Ende ist und wir eine Weile schweigend dagesessen haben, fest, dass es uns schon nach kurzer Zeit nicht mehr genervt hat.
Die Musikerin ist im Leben jenseits dieser Bühne Musikerin. Auf der Bühne auch. Das gilt auch für die Männer. Auf der Bühne und im „richtigen“? Leben: Altenpfleger (!), Mediengestalter (!), Politiker (ja, Politiker im hessischen Landtag).
Ihr Theater? Echt. Sie zeigen uns ihr Tourette. Und zeigen es sich gegenseitig und sich je selbst. Der eine sagt: Ich hatte Angst, dass ich mir von Euch was abgucke. Einer schreit Arschloch, als ein anderer gerade redet. Und noch mal. Und noch mal. Der, der gerade redet, dreht sich um, maunzt und bellt: Jetzt halt doch mal … . Und die Blicke und die Haltungen der beiden erzählen: Es ist kein Konflikt! Sie sind eben einfach so. Das Problem haben wir. Bzw. in der Phase schon nicht mehr. Wir haben uns ja inzwischen eingehört, eingeguckt.
Natürlich spielen die Liebste und ich anschließend „Tourette“. Miauen, grunzen, furzen, Arschloch was was, Geile Maus. „Spielen“ meint: Wir probieren aus. Tasten uns in das Gefühl. Natürlich auch „Spielen“ im Sinne von „Blodsinn machen“, Laut-Verkleidung, Ungehorsam sein, Konvention brechen. Eigentlich der ganze lustige Ernst von Kinderspiel.
Immer mehr fange ich dabei an mich zu fragen, ob meine Kommunikationskonventionen überhaupt so weit weg sind von Tourette. Ganz im Ernst. Ob nicht viel von dem, was ich tue und sage, auch nur kleinen synaptischen Eruptionen geschuldet ist und mit einer gewissen Mechanik einfach rauspoltert.
Ich taste mich weiter. Wie oft fange ich Entgegnungen in Geprächen, selbst wenn sie gar nicht als Widerspruch „gedacht“ sind, mit „Aber“ an? Wie oft ende ich mit „verstehst du“? Wie oft beginne ich einen Satz, die oder der andere redet aber noch weiter, ich grätsche dazwischen mit demselben Satzanfang, die oder der andere redet aber noch weiter, wieder mein Satzanfang, – das Ganze dreiviermal. Bis ich dann den ursprünglich gesagt gewollten Satz beende. Als hätte es den Satz meines Gegenübers gar nicht gegeben. Wie oft bohre ich in der Nase, obwohl da gar kein Popel rauswill? Wieviele von meinen Kommunikations-Häppchen sind einfach nur synaptische oder körperliche Zuckungen. Wieviel ist einfach sinnlose Mechanik, die nur kultivierter daherkommt? Oder besser: Sinnvolle Mechanik, deren Sinn aber nicht den Ursprung hat, den er vorgibt zu haben, sondern einen anderen, vegetativen, emotionalen. Einen Ursprung, der einen tieferen Sinn hat.
Und das, was ich als Kommunikation sehe und höre. Wieviel davon einfach nur „Tourette“? Kleine Ausbrüche, deren Bedeutung ganz anders entsteht als durch das, was wir „Denken“ nennen?
Und auch das macht Spaß. Theaterspaß. Möglicherweise ist „fake“, das Lieblingswort eines bekannten Präsidenten, gar nicht der Ausdruck irgendeines kruden Versuches, Sinn zu kommunizieren, sondern einfach nur der Nähe zu „fuck“ geschuldet, die irgendeinen Impuls im Großhirn auslöst, der dann bellt: Raus damit. Spaß am Provozieren, einfach nur der Klang, Kreation von Absolutheit. Was weiß ich!
Wieviel Tourette ist in „Shutdown“, „Lockerung“, „Test“, „Abstand“, „Tröpfchen-Infektion“, „Rachen“, „Covid“, Zippeln an der Mundschutzmaske, Husten, Wegdrehen?
Was soll das ganze Theater, das vorgibt keins zu sein?
Wieviel Tourette ist in den aktuellen neuen Routinen, die vorgeben, Vernunft zu sein.
Neue Welten tun sich auf.
Der Idealfall von Theater. Theater der Tourette-Routinen.