Coworking

Ich betrete den Laden und bin natürlich skeptisch. Ich bin alt. Und pensionierter Lehrer. Da kommen automatisch noch ein paar Jahre drauf. Hier ist alles jung. Die Menschen. Die Geräte. Der Style. Ich weiß, dass die Skepsis trotzkopfdummer Selbstschutz ist. Ich will nicht denken müssen, dass ich von frühestens gestern bin. Die Skepsis schmeckt schal. Sie ist kein Espresso, der mich richtig schön aufputscht. Sie ist kalter Kaffee. Ich trink ihn trotzdem.
„Coworking“ heißt der Laden. Ich bin verabredet mit einem Spezialisten für Digitalien. Für WordPress, für Google-Ranking, für Seo, für Hosting, für einfach alles. Sogar für Sachen, von denen  ich gar nicht weiß, dass es sie gibt und dass man dafür Spezialist sein kann. Er ist auch jung.
„Coworking“, … bestimmt ist das der x-te Versuch, sich irgendwie in Digitalien über Wasser zu halten, mit ein paar Einnahmen und ein paar Fördergeldern gerade so am Laufen gehalten, dass es nicht sofort eingeht. Was soll das sonst sein? Man kann hier digitale Arbeitsplätze mieten. O.k., verstehe ich. Aber das wirft doch mit Sicherheit nicht soviel ab, dass …
Ganz der miesepetrige pensionierte Besserwisser mäkel ich innerlich meine Verunsicherung weg. Sie geht aber nicht.
Mein Gesprächspartner ist noch nicht da. Ich lege meine Sachen ab in dem Raum, den mir ein überaus freundlicher, asiatisch aussehender Mensch zugewiesen hat. Verbunden mit der Frage, ob ich vielleicht etwas trinken möchte. Einen Kaffee? Einen Espresso? Ein Wasser? Ich nehme den Kaffee. Passt gerade besser.
Dann gehe ich erstmal aufs Klo. Mit Hose auf Halbmast schaue ich mich um. Seit ein paar Jahren habe ich ja beim Pinkeln Zeit. Der kleine Raum ist genau so wie alle anderen Räume hier. Gerade so gemütlich, dass man sich eingeladen und angenommen fühlt. Gerade so unpersönlich, dass man ihn sich aneignen kann.
Auf einem Sims liegen zwei Reclam-Bändchen. Reclam-Bändchen!
Einerseits die Papier gewordene Verachtung unserer Gesellschaft für Schule. Man will den jungen Menschen klassische Bildung verpassen. Aber es soll nicht zu viel kosten. Sie sind billig, das Gegenteil von wertig und zu klein zum Lesen. Lust auf Buch geht irgendwie anders.
Aber die beiden Bändchen wecken andererseits auch ein wenig nostalgische Verzückung bei mir. Man kann sie schön in die Arschtasche stecken und im Bus noch schnell ein paar Zeilen … . Zwei, drei hab ich noch. Vollgekritzelt während langweiliger Stunden. Abwesenheitsnotizen. Diese Bändchen hier sind noch ganz frisch. Eins gelb. Eins orange. Beide sind Sammlungen von Texten lateinischer Autoren. Ich nehme das orangene.
Martial, Epigramme.
Links Latein, rechts Deutsch. 40 n.Chr. Ich lasse ein paar Seiten hinterm Daumen entlangfluddern. Mein Daumen weiß genau, wo er bremsen muss: „Epigramme, neuntes Buch – „Der Pauker“

Auszug aus Reclam-Bändchen Martial Der Pauker

Mir fallen zwei Zeilen aus Shakespeares „Romeo und Julia“ ein:

Love goes t’ards love like schoolboys from their books
But love from love t’ards school with heavy looks.

Die Reclam-Nostalgie verrührt sich mit einem schwermütigen Seufzer: Ach, – die Schule. So alte Texte. So aktuell die Botschaften darin. Wahrscheinlich wird Schule immer so bleiben, wie sie immer war.
Zum Glück erinnere ich mich, warum ich hier bin und gehe zurück in „meinen Raum“.
Mein Gesprächspartner heißt Ralph. Ich spreche ihn  auf die interessante Lektüre auf dem Klo an. Er lacht. Und erzählt, es gebe eine schräge Politkneipe im Südbahnhof. Einer von denen, die dort regelmäßig verkehren, habe ihm die beiden Bücher empfohlen. Er schildert die Kneipe, die Menschen dort, das Haus, in dem die Kneipe ist. Er strahlt. Meine Skepsis zieht sich beschämt zurück. Wie Nebel aus der Morgensonne.
Von Ralphs Know-How bin ich – wie würde man hier sagen?: – geflasht. Und davon, dass er dieses Know-How für mich anwendet. Für mich konfiguriert. Er hört sich an, was ich möchte und gleicht sein Können damit ab. Er schüttet mich nicht mit „müsstest“ zu. Wir reden. Wir lachen. Wir arbeiten. Ich verstehe. (na, ja, jedenfalls das Meiste.)
Wir sind in einem der zahllosen Räume von „Coworking“. Sie tun sich plötzlich auf, wenn man um eine Ecke geht. Sich in einer der Teeküchen umdreht. Einem Menschen, der gerade über einen der vielen Flure geht, hinterherschaut.
Irgendwann beginne ich zu verstehen. Hier haben Menschen Arbeitsplätze gebucht. Sie gehen hier ihren Projekten nach. Und sie können hier Menschen begegnen, mit denen sie vielleicht zusammenarbeiten möchten.
Man bildet Teams. Man löst sie wieder auf. Oder auch nicht. Man schaut, ob X zufällig auch da ist. Ist sie. Oder er. Man diskutiert. Bespricht. Überall lassen sich blitzschnell Geräte aktivieren, Stühle zurechtrücken, Inseln der Konzentration bauen.
Ich frage mich, wo diese Menschen diese Art von Team-Arbeit und Vernetzung gelernt haben. In der Schule bestimmt nicht. Als Schüler braucht man kein Team. Man zeigt auf. (Gilt auch für die Schülerin.) Und wird drangenommen. Oder auch nicht. Als Lehrer braucht man kein Team. Man schlürft das süße Gift des Unterweisens, des Bestimmens. Und nachher korrigiert man. (Gilt auch für die Lehrerin.)
Was diese Menschen hier können, können sie trotz Schule, nicht wegen ihr. Ach, wär das schön …

Ralph kommt zurück vom Klo. Zum Glück. Aus dem kleinen melancholischen Schub wird kein Anfall. Wir arbeiten weiter. Und ich verstehe (na, ja, jedenfalls das Meiste.)