An Herrn
Uwe Mies
Filmkritiker
WDR 5

50600 Köln

Betreff: Der Junge muss an die frische Luft

Sehr geehrter Herr Mies,

ich schreibe Ihnen, weil …, weil …
Sie schulden mir einen Tag.
Kein Scherz. Mein voller Ernst.
Sie haben mich dazu gebracht, ins Kino zu gehen. Schließlich sind Sie mein „Film-Guck-Idol“. Da gibt es so vieles, was ich (auch) durch Sie entdeckt habe: Z.B., darauf zu schauen, ob in einem Film das, was die Geschichte vorgibt zu erzählen, die Bilder auch tatsächlich erzählen, darauf zu schauen, ob ein Film die große Leinwand überhaupt aushält, darauf zu schauen, ob die Schauspieler, so gut sie ihr Handwerk auch beherrschen mögen, mit der Geschichte, mit den Personen, die sie spielen, überhaupt etwas anfangen können, ob sie sich selbst glauben sozusagen.
Und so vieles mehr.
Und weil Sie im Radio gesagt haben, „Der Junge muss an die frische Luft“ lohne sich anzuschauen, nur deshalb, habe ich diesen Film angeschaut.
Bevor ich Sie über diesen Film habe ich reden hören, war klar, dass ich diesen Film nicht anschaue. Ich mag Hape Kerkeling nicht. Nein, falsch. Ich mag Hape Kerkeling. Nur den Komiker mag ich nicht. Diese Art von Humor mag ich nicht. Mein Gott, wie oft musste ich mir anhören von Meinesgleichen, wie ungeheuer witzig sie „Hurz“ fanden. Wie oft habe ich mich dabei unbehaglich gefühlt. Wie oft habe ich mich nicht getraut, genau das zu sagen. Zu sagen, wie billig ich diese Art von Humor finde. Menschen auf’s Glatteis führen und sich dann an ihren albernen Reaktionen gütlich tun. Für mich ist das – Entschuldigung! – RTL 2 für Bildungsbürger. Auf die Spitze getrieben dann von einem gewissen Stefan Raab für die Kinder dieser Bildungsbürger.
Und auch kunstfeindlich fand ich es. Ich konnte vor meinem inneren Auge sehen, wie genau diese Bildungsbürger von nun an ein Bomben-Alibi hatten, sich lustig zu machen über Kunst, die sich ihnen nicht auf Anhieb erschließt.
Oder noch schlimmer: Sich genauso zu verhalten, wie die Hörer von Hurz, wenn es sozial opportun ist und sich bei nächster Gelegenheit genau darüber kaputtzulachen und es nicht zu merken.
Ich mag sowas nicht. Ich mag lieber die taurigen Clowns. Die, die auch Menschen auf’s Glatteis führen, aber auf eines, auf dem sie selbst schon stehen. Die vielleicht sogar helfen, drauf zu stehen oder helfen drüber zu lachen, wenn man ausrutscht und hinfällt. Die vorleben, wie lächerlich ehrenhaft es ist, immer wieder aufzustehen auf diesem Untergrund.
Ich mag nicht das denunzierende Lachen über Menschen auf Glatteis, auf das der Komiker sie geführt hat ohne mitzugehen.
Und weil ich den Komiker Kerkeling nicht mag, und weil ich dem, was ich über die Privatperson Hape Kerkeling zu wissen glauben soll, nicht traue, weil ich weiß, dass mediale Identitäten vor allem Legenden sind, und weil dieselben Meinesgleichen, die sich immer noch schlapplachen über Hurz und die mit Hingabe über den Jakobsweg gelesen haben und mit derselben Hingabe – Hach! – über die Jugend von Kerkeling, mir nun überaus begeistert diesen Film empfohlen haben, – deshalb wollte ich nicht in den Film.
Und dann sprachen Sie. Mein Idol Uwe Mies. Und sagten Sätze wie: „Die Erfahrungswelt des Jungen sind unsere Augen auf die Leinwand.“ Ein Satz für meine kleine Ewigkeit.
Und ich ging in den Film. Und wurde stumm. Und wunderte mich über das Lachen um mich herum. Und verstand es nicht. Und lachte selber. Und verstand es nicht. Und hoffte immer, der Film sei einfach die Geschichte eines Jungen, der irgendwie mit der Depression der Mutter und der Abwesenheit des Vaters versucht zu leben. Und dann kam der Selbstmord der Mutter. Unter den Augen des Kindes. Und dann kam Horst Schlemmer. Und dann kam Hape Kerkeling selber.
Und ich stürzte ab. Buchstäblich. Mein voller Ernst.
Das alles geschah an einem Samstag Abend. Den ganzen folgenden Sonntag verbrachte ich wie die Tage damals, als etwas mich in eine graue Zelle eingeschlossen hatte und ich nicht mehr rausfand. Auch nicht im Schlaf. Denn ich konnte nicht mehr schlafen.
Und ich war besorgt, weil die Tür zu dieser grauen Zelle wieder einen Spalt offen war. Und ich wollte aber nicht hindurch. Aber ich konnte mich auch nicht einfach umdrehen.
Ich habe das erst gar nicht mit dem Film in Verbindung gebracht. Erst zwei Tage später konnte ich mich trauen zu denken, dass mein Zustand vom Tag vorher womöglich von diesem Film herrührte. Was nicht leicht ist, sich einzugestehen. Ein Gemüt am Rande der Depression durch einen Kinofilm??!! Hallo??!! – um es neudeutsch zu sagen.
Auch ich habe eine Mutter am Leben erhalten müssen. Wie der kleine Hans-Peter. Aus Gladbeck übrigens. Mir ist es zum Glück bis heute gelungen, bis zu der Zeit, als diese Mutter umgesiedelt ist nach Anderland. Sie erinnert noch meinen Namen aber nicht mehr ihr Leid. Jetzt muss ich sie nicht mehr am Leben erhalten. Jetzt kann ich mit ihr lachen. Sie sagt manchmal Sätze wie „Was guckst du denn so blödig!“ Und guckt genau wie früher. Und ich lache und sage: Na, weil ich doch blödig bin! Und sie lacht auch. Wir lachen beide. Nicht aus dem gleichen Grund. Vermute ich. Aber zusammen.
Das Kind im Film erlebt mit, dass die Mutter stirbt. Ohne zu wissen, dass es genau das jetzt gerade erlebt. Wohl aber es zu ahnen. Da spürt man kurz ein Leid, das echt ist. Da ist ein Bild, das zeigt, dass so ein Kind viel mehr mitbekommt als das, was die Erwachsenen ihm weismachen wollen, ohne zu wissen, was es ist. Da ist er spürbar, – der schlafende Hund, der früher oder später die Zähne fletschen wird. Vielleicht sogar in Form der Möglichkeit eines Selbstmordes. Da spürt man kurz, dass jetzt gerade einem Kind das Schlimmste passiert, was überhaupt passieren kann. Auch wenn es, – weiß ich! – immer noch schlimmer geht. Und das ist so traurig, dass es schon einer/s genialen Künsters*in bedarf, das mit verklärendem Lachen über Eierlikör zu kombinieren. Den Schmerz nicht wegzukitschen und wegzunostalgieren.
Sie sagen, Herr Mies, der Film halte konsequent die Augenhöhe des Jungen ein. Was ist mit den Szenen, in denen der Junge gar nicht dabei ist? Oder den Szenen, in denen ich als erwachsener Zuschauer ein Kind in einem Supermarkt sehe, das hinter einem Regal hervorlugt und die Erwachsenen beobachtet? Oder der Szene, in der die Lehrerin den Kindern hinterherschaut? Das „Gespräch“ des Vaters mit der Mutter, die traurig ist. Und ihren alten Garten vermisst. Sein hilfloser Versuch, sie zu trösten. Augenhöhe des Kindes? Oder die Rügenwalder-Romantik an der Geburtstags-Kaffeetafel im Freien aus der Vogelperspektive? Nein, nein, ich bringe jetzt nicht den billigen Scherz, dass das nur dann die Augenhöhe des Jungen sein kann, wenn er fliegt. Aber wenn das alles die Augenhöhe des Jungen ist, – warum erzählen es die Bilder dann nicht? Jedenfalls mir nicht. Ihre Logik! Und meine dank Ihnen.
Nein, der Film erzählt nicht aus der Augenhöhe des Kindes. Er erzählt aus der Augenhöhe eines Erwachsenen, der ein Kind missbraucht, um hier und da und überall und auch in der Vergangenheit zu verklären. Hach! Guck mal da, der alte Taunus. So einen hatten wir auch! Die Augenhöhe des Kindes wäre: Dies ist Technik letzter Stand. Denkbar modern. Danach kommt direkt Raumschiff Orion.
Hach!, – Ommas Käsekuchen. „Hach!“ – Karnevalsparty-Polonaise malerisch auf dem Damm mit Industriekulisse im Hintergrund.
Was ist mit der Tatsache, dass der Junge sich über genau die lustig macht, die ich als Standard-Erwachsener auch schräg finde, die in dem Film genau daraufhin inszeniert sind, nicht aber über die „Guten“? Das Kind macht sich lustig über die „Nicht-Guten“. Tante Gertrud. Oder die Rowdys, die es verprügelt haben, und die dann vom großen Bruder selber Haue kriegen. „Ich hab mich geirrt. Gewalt ist doch eine Lösung!“ Ich lache auch, und gehöre zu den Guten.
Ich sehe das alles, warte verzweifelt, wann mir die angebliche Augenhöhe des Hans-Peter zeigt, wie sich das alles als Träume in seine wunde Seele senkt, so tief, dass es dann als Narbe auf der Seele ein Leben lang sichtbar bleibt. Bestenfalls. Wie da eben schlafende Hunde geboren werden. Aber es kommt nicht.
Es kommt auch nicht, dass es ein Trauma ist, ein Drama, ein Eingewoben-Sein in ein tragisches Schicksal, dass den Jungen beinahe zwanghaft zum Komiker macht. Nein. Er wird zum Komiker, ja, aber es ist nett. Ein Ausweg eben. Eine Lösung. Und ich breche ein.
Mir hat mein Drama nahegelegt Lehrer zu werden. Auch ein Ausweg. Einer, der sich bis an die Grenze der Gesundheits-Gefährdung und darüber hinaus aufmerk- und einfühlsam, verantwortungsvoll, weit überdurchschnittlich für seine Arbeit engagiert hat. Einer, der gerade deshalb unter diesem maroden Schulsystem in diesem Land sehr gelitten hat.
Einer, der, jetzt gerade frisch pensioniert, mal so gar nicht weiß, wohin.

Dieses Kind, dieser ehemalige Lehrer hat diesen Filmkritiker gehört, diesen Film gesehen, diesen Tag danach erlebt, geredet, gewälzt, gehadert, nach-gedacht.
Und denkt jetzt: Es war gut so.
Sie können den Tag doch behalten, Herr Mies. Sie schulden ihn mir nicht.

Danke dafür
Ihr weiterhin sehr verbundener
Martin Gehrigk