Heute will ich zum Baum meines Bruders. Der Trauer Zeit schenken. Für den Weg und vielleicht auch mein Verweilen dort möchte ich die drei Songs auf mein Handy laden, die in der Zeit nach seinem Tod so wichtig waren.
Außerdem ein Foto. Vielleicht will ich es, wenn ich da bin, in meinen Händen halten.
Alles das, weil vielleicht das Gewimmel im Kopf den Weg nicht frei gibt zur Trauer.
Bei der Suche nach den Songs und dem Bild auf meinem Computer stolpere ich, ich weiß nicht mehr wie, wieder einmal über „Arbeit und Struktur“ – den Blog von Wolfgang Herrndorf.
Ich klicke hinein.
Der letzte Eintrag ist immer noch derselbe:

„Schluss
Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.“

Er rührt mich an wie eh und je. Ich öffne das letzte Kapitel, weiß nicht mehr warum. Ich wollte doch eigentlich was ganz anderes. Dort finde ich einen Eintrag vom 23.07.2013.
Ein Erlebnis mit einer toten Libelle.
Keine Spur mehr von Gewimmel. Gedanken wie angeknipst.
Diesen Text will ich als Startbild auf meinem Desktop haben. Als Hintergrund vielleicht eine meiner Langeweile-Kritzeleien, die ich immer aufhebe und einscanne? Stromere durch den Ordner, bleibe hängen bei einem Foto, das hier eigentlich gar nicht hingehört. Wie ist das denn hierhingeraten? Es zeigt die Wasseroberfläche unseres Teiches, auf dem Bambusblätter schwimmen.
Das muss es sein. Erst viel später fällt mir auf, dass es eine intuitive Logik hat, über gerade dieses Bild zu stolpern. Hier wird eine Libelle ja groß: Im Wasser.
Inzwischen ist mein Entschluss jetzt zu meines Bruders Baum zu fahren schon mehr als eine Stunde her. Eine Vorstellung entsteht. Dieses Bild, umgewandelt in Schwarzweiß mit verblasster Schwärze. Darauf die Buchstaben des Libellen-Textes.
Ab jetzt folge ich selbstvergessen diesem inneren Bild. Bearbeite das Foto. Kopiere den Text in Word. Drucke ihn aus. Scanne ihn ein. Löse jedes einzelne Wort aus seinem Hintergrund. Was für eine mühsame, fummelige Arbeit. Keine Ahnung, warum ich das mache. Dennoch keine Zweifel. Es muss unbedingt sein. Auf eine lustvoll Art, die mich immer weiter zieht. Was für stolze kleine Bauwerke sind doch Buchstaben! Wie zittrig meine Hand, wenn ich den Curser versuche an ihren Konturen entlangzuführen. Schrift – Bild. Viele Versuche misslingen. Dann ist es doch fertig. Mehr als zwei Stunden sind vergangen seit meinem Entschluss. Es ist gut

.Bambusblätter auf einem Teich  Wolfgang Herrndorf, Libelle, Blog Arbeit und Struktur

Und seltsam unpassend. Dieses Bild, das viele Stunden voller Hingabe in sich trägt, als Bild auf einem so unsentimentalen Gegenstand wie meinem Computer! Ich bin liebevoll verbunden mit dem Text. Auch mit diesem klitzekleinen Fehler. „Gewiesene“ statt „Gewiesen“.

Mache mich fertig. Fahre los. Stunden nach meinem Entschluss. Bin in einer anderen Welt in anderen Bildern und doch ganz nah bei ihm. Die ganze Zeit. Obwohl in meinen Gedanken sein Name nicht fiel. Die gute Stunde, die ich fahre, im Auto, ein dichtes Nebel-Wadern von Gedanken-Dasein. Erinnern. Fetzen von Sätzen. Gesichtsausdrücke. Seine Art zu tanzen. Wie er dabei genussvoll die Unterlippe leicht nach vorne schob. Sein mildes, starkes Schweigen. Das Großer-Bruder-Schweigen. Sein runder warmer Körper, wenn ich ihn umarmte beim Begrüßen.

Das kann ich nicht. Schreiben, wie meine Reise zu seinem Baum weiterging, ohne, ja – ohne was? – ohne –

Anruf. Herzinfarkt. Rasende Fahrt. Halte durch! Ich bin gleich da!
Aber ich bin nur der kleine Bruder.

Ich fasse seinen Baum an. Meine zu spüren, wie etwas von seiner Seele in mich hineinwandert. Wie damals, als ich – zu spät – in der Intensivstation ankam. Er schon in einem Anderen. Ich legte meine Hand auf seinen nackten Oberarm. Erschrak, wie kühl er war. Und spürte, wie etwas aufgeregt in mich hineinströmte. Als hätte sich seine Seele erschreckt und wäre in mich geflüchtet. Unterschlupf? Ich weiß noch, wie ich ein, zwei Wochen später, damals, in irgendeiner tiefen unruhigen Nacht sie bat, sich einen anderen Ort zu suchen. Ich konnte die Enge um mein Herz nicht mehr tragen.
Quatsch, sagt der Vernunft-Fundamentalist in mir, – mein ‚Aber’. Das alles, was Du da fühlst, bist Du, nicht er. Tod ist nur Stecker raus und Schluss.
Pflücke ein Kleeblatt, das genau an der Stelle wächst, an der zwischen den Wurzeln dieses Baums seine Urne eingegraben ist. Ist etwas von ihm darin? Natürlich.
‚Aber’ zynt.
Denke an eine Freundin, die homöopathisch arbeitet. Kleinste Stofflichkeit, die Organismen wachsen hilft. Vielleicht kennt sie diese Welt der Moleküle.
Auf der Rückfahrt fällt mir ein, dass auch ich einmal eine Libelle gefunden habe im Wohnzimmer. Ich hab sie damals nicht „bestattet“, wie Wolfgang Herrndorf. Ich hab sie all die Jahre in einer Blechschachtel aufbewahrt. Ab und zu schaue ich hinein. Bin immer noch überwältigt von dieser Lebenspracht und zugleich traurig zu sehen, wie ihr prozellanen volles Blau-Grün immer weiter verblasst.
Und mir fällt ein, dass ich manchmal, wenn ich Hüllen von Libellen-Larven am Teich finde, mich frage, ob dieser Kunstflieger da über den Schachtelhalmen irgendwas von seinem ersten, seinem Wasserleben mitnimmt in die Lüfte. Womöglich ein Erinnern? Warum sonst am Teich weiterleben?
Und mir fällt ein, dass ich, nachdem ich zum ersten Mal eine solche Hülle am Teich gefunden hatte, den heimlichen Wunsch hatte, mir dieses Bild von einer Libellen-Larve in die Haut tätowieren zu lassen, – irgendwo rechts an der Leiste.
Und mir fällt ein, dass ich irgendwann einmal, ich weiß nicht mehr wann und wie dahin gekommen, davon überzeugt war, dass dort meine Seele sitzt, – irgendwo rechts an der Leiste.
Und mir fällt ein, dass ich vergessen habe, mir Wasser mitzunehmen für die Fahrt.
Ich denke so traurig gern an ihn.
Ich wäre so gerne Larve.
Und er wäre Libelle.