Du bist ein kleiner Gernegroß

Als ich von diesem merkwürdigen Ort wegfahre, muss ich lächeln. „Du bist mir ja ein trotzkopfdummes Abenteurerlein“, denke ich. Aber nicht mit der üblichen zynischen Verächtlichkeit des Aber gedacht. Eher liebevoll, beiläufig. Ein hingehauchter selbstironischer Gedanke, der mir mit einer freundschaftlichen Geste einen Arm um die Schulter legt.

Ein paar Tage vorher hatte ich dieses Gebäude von der Schnellstraße aus gesehen. Wie gemein! Diese faszinierend abstoßende Gebäudeverlockung, die nach Blicken lechzt. Und genau die müssen aber der Straße gelten. Zugleich keine Chance, hier – und sei es in fußläufiger Nähe – mal eben anzuhalten. Ich nehme mir vor, noch einmal hierhin zurückzukommen, um Fotos zu machen.
Was ich im Vorbeifahren erkennen kann, ist eine futuristische Bauruine. Kurz vor der Fertigstellung und schon dabei zu verwahrlosen. Zahllose spinnenbeinig hochgewinkelte Stützen an den Seiten halten helle Seitenwände und ein Dach. Das Unkraut, das offenbar unbehelligt aber gerade noch ausreichend mit Licht versorgt, in dem riesigen Innenraum auf dem Boden schon recht hoch wächst. Eine nicht mehr genutzte, jung ergraute Hütte an einer Art Baustellen-Einfahrt, die aber schon lange keine Fahrzeuge mehr hat einfahren, dafür aber wilde Pflanzen hat wachsen lassen, die es auch auf solchem geröllrümpeligem Boden schaffen. Löcher in den Seitenwänden, die noch auf den Verbau von Türen warten. Oben an den Seitenwänden kleinere Löcher, die auf nichts mehr warten. Das ganze Ensemble eine lichte dark-future-Inszenierung. Oder die abgefahrene, wirkliche Welt gewordene Kulisse einer Techno-Oper. Ein Baustellen-Schild, dem wir, selbst wenn wir gut genug Italienisch könnten, im Vorbeifahren gar nichts entnehmen können.

Matera leer stehende Kompostierhalle

Ein paar Tage später mache ich mich frühmorgens tatsächlich auf. Zwei frisch aufgeladene Akkus. Extra-Speicherkarte. Wasser. Eine lange Hose, falls ich durch Gestrüpp muss, um ins Innere der Halle zu gelangen.

Schon das, was mir selbstverständlich und einfach vorkommt, wird schwierig: Die Halle überhaupt wiederzufinden. Ich hatte sie ungefähr 15 Kilometer vor unserem Ziel in Erinnerung. In Wahrheit, so stellt sich heraus, sind es fast 30 Kilometer. Nach vielen glücklichen Zufällen und Gedankentänzchen wie „ist das nicht diese eine Baustelle?“, „Moment, diese rote Gebäude, das war doch damals auch …“, „müsste die Straße nicht jetzt einspurig werden?“, „nein, hier ist das nicht, dreh wieder um“, „ach, du kannst ja auch einfach nochmal bis zur nächsten Hauptabzweigung weiterfahren,“ liegt sie plötzlich wieder da, in ihrer ganzen skurrilen Erscheinung. Ich fahre zweimal in Gegenrichtung   vorbei. Dann finde ich tatsächlich eine parallel zur Hauptstraße führende kleine Straße, die genau zur der Halle führt. Ganz kurz vor dem Empfangshäuschen bin ich fiebrig glücklich. Dann aber erschrecke ich. Als ich in der Einfahrt halte, werde ich vom düsteren Gebell mehrerer großer Hunde empfangen. Blinkende Reißgebisse. Wütendes Kieferklappen. Abwechselnd mit grimmig grollendem Knurren, die Lefzen gerade so hoch gezogen, dass ich einen sehr überzeugenden Eindruck von sehr scharfen Zähnen bekomme. Die beiden Hunde, die ich genauer sehen kann, scheinen mir angekettet.
Erschrocken und enttäuscht drehe ich den Wagen und fahre erst einmal ein Stückchen weg. Ich stoppe den Motor, überprüfe die Kamera, steige aus und gehe vorsichtig los. Gedanken rasen um die Wette. Die Piste, auf der sie hetzen, ist meine uralte große Angst vor Hunden. „Aber wenn sie angekettet sind, könnte ich ja vielleicht dran vorbei“, „was ist, wenn dann plötzlich doch nicht alle angekettet“, „wen zum Teufel sollen denn diese Hunde abschrecken, – hier verirrt sich doch niemand hin“, …
Langsam komme ich näher. Wieder erstarre ich. Der Hund, den ich für angekettet hielt, ist nicht mehr da. Er war also nicht fest. Er läuft also frei … . Ich suche ihn. Er liegt im Inneren der Halle. Im Schatten. Ich suche das Gelände ab. Entdecke vier weitere Hunde. Sie liegen faul herum.

Matera, Kompostierhalle, Wachhunde

Bellen nicht. Schauen nicht einmal in meine Richtung. Vorsichtig taste ich mich weiter. Erinnere mich an einen vermüllten öden Platz in der Nähe eines Campingplatzes auf Sizilien, auf dem mindestens ein Dutzend wilde Hunde lebt. Wenn ich nicht mehrere Jogger*innen gesehen hätte, die seelenruhig an dem Gelände   vorbeitrabten, hätte ich mich das ganz sicher nicht getraut. So aber tat ich es einfach auch. Die Hunde damals rührten sich nicht. Ob dies hier einfach auch wilde Hunde sind? Die haben sich aber gerührt! Aber vielleicht nur wegen des Autos? Jetzt sind sie ruhig. Ob du vielleicht einfach vorsichtig weitergehst? Oh Gott, nein! Aber du möchtest doch so gerne in die Halle hinein. Und wenn es doch Hunde sind, die bewachen sollen? Aber was bewachen? Hier ist doch eigentlich nichts.

Ich fotografiere, was aus sicherer Entfernung geht. Jederzeit bereit zu rennen.

Schließlich steige ich wieder in den Wagen. Atme auf.
Und bin zugleich ein bisschen beschämt, dass ich mich nicht getraut habe, es noch weiter zu versuchen.

Aber nicht sehr. Es tut auch gut, meine Angst vor Hunden einfach zu respektieren.

Während ich so vor mich hinlächle, erinnere ich mich zum allerersten Mal, seit ich bewusst erinnere, an den Satz: „Du bist ein kleiner Gernegroß“. Sagte ihn eher mein Vater? Oder meine Mutter? Oder überhaupt die Erwachsenen? Ich weiß es nicht mehr, aber ich spüre beim Erinnern genau die fragende Verunsicherung, die er immer ausgelöst hat, fast als hätte ich gehofft, der Satz würde nicht bedeuten, was er bedeutet. Fast als hätte ich gehofft, ich würde ihn einfach nicht richtig verstehen, weil ich ja noch ein Junge bin.

Wie immer nach solchen Situationen debattieren Ich und Aber. Sie raunen solche Sätze wie: Du bist einfach ein Schisshase. Das ist ja gerade noch mal gutgegangen. Ich weiß nur nicht, wer von den beiden welchen Satz sagt. Immerhin! Ein Fortschritt! Ich lächle weiter. Bei Schisshase fällt mir noch ein anderer Jugend-Begleitspruch ein: „Angsthase! – Pfeffernase! – Morgen kommt der Osterhase!“ Als könnte ich den Klang der Stimmen noch hören. Die verächtlichen Gesichter der sommersprossigen Siedlungsdesperados noch sehen. Die Sehnsucht noch spüren: Ach wäre ich doch auch so ein mutiger Abenteurer. Du wirst nie die Rolle von Winnetou kriegen. Du kommst ins Tor.

Ich fahre an einem Cafè vorbei. Kurz entschlossen halte ich an. Einen Espresso, ein Cornetto. Kurzer Dialog, welche Sorte. Hier ist das Revier der groß gewordenen Sommersprossendesperados. Sie schlacksen hier hinein. Werfen einen Spruch in den Raum. Zwei, drei andere werfen zwei, drei Sprüche zurück. Ich verstehe sie alle nicht. Aber der Ton der Stimmen, die Kehligkeit der Lacher, die wissenden Blickbrücken zwischen den Kerlen. Ich kenne das. Trotzdem bleibt merkwürdigerweise die tiefe Verunsicherung, die das normalerweise bei mir auslöst, aus. Sogar, als sich die Brisanz der Szene noch steigert. Ich zeige einem der Männer ein Foto von der Halle auf dem Display des Apparates. Er verweist mich an einen anderen. „Der weiß das, der ist von hier.“ Der guckt auf das Display. Nimmt mir die Kamera aus der Hand, um besser sehen zu können. Ich gebe sie widerwillig her. „Ach so, ja“, irgendwas in der Art sagt er. Ich erkenne es am Ton und an der wegwerfenden Handbewegung. Ich verstehe soviel wie: „Das ist eine Groß-Anlage zum Kompostieren. Aber sie funktioniert nicht.“ Eigentlich glaube ich nicht, was ich da verstanden habe, aber die Blöße, noch einmal oder sogar mehrfach nachzufragen, will ich mir nun doch nicht geben. Zumal die Kerle schon wieder im Albermodus sind. Diesmal geht es um Schwul-Sein und Französisch. „Montpellier“ taucht immer wieder auf begleitet von Teekännchen-Arm- und Fingerhaltung und eindeutigen Blicken.

Ich mache mich davon. Im Auto muss ich wieder lächeln. Ob die mich meinten?
Ich freue mich, dass ich die Verunsicherung spürte und trotzdem darin nicht verloren ging.

Vielleicht bin ich jetzt gerade ein großer Gerneklein.