Ganz einfach kompliziert

„Wie schön das hier ist“, denke ich, als ich am frühen Morgen, noch schlafnebelig, aus dem Fenster schaue, „ganz einfach schön.“ Gerade ist die Sonne über die waldigen Hügel gegenüber gekrochen. Ihr Licht reicht schon, um dem Ocker der rau verputzten alten Hauswände rechts und links neben mir einen orange-gelben Schimmer zu geben. Dem Blau darüber eine zufriedene Tiefe.

Alte Fassaden Morgenlicht

Hinter mir röchelt das kleine, schwere Stahlkännchen auf dem Gasherd.

Espressokocher

Es duftet. Die schwarze Kammerflimmer-Brühe ist fertig. Einen Moment warte ich noch. Genau einen Moment zu lang. Als ich mich umdrehe, hat das Kännchen schon einen Teil des ohnehin spärlichen Espressos neben die Flamme gespuckt. „Ich werde den Umgang mit diesen Geräten nie lernen“, denke ich ein wenig ärgerlich. Und konzentriere mich. Denn ich weiß, dass jetzt auch noch droht, sich an dem Kännchen die Finger zu verbrennen.
„Ja“, denke ich, als ich mit dem ersten Kaffee in der Hand am Geländer der hoch gelegenen kleinen Terrasse den Schwalben zuschaue. Mich daran freue, wie sie irrwitzige Flugfiguren in die Luft federn. Manchmal, wenn sie sich plötzlich seitlich drehen, lässt die Morgensonne ihre weißen Bäuche aufblitzen. Das Haus, in dem unsere Wohnung ist, hängt am Fels. Eng geschmiegt an weitere kleine und größere Häuser neben über und unter ihm. Die Adern dazwischen: stufige Gassen. Der Luftraum zum Tal hin: Das Eldorado der Schwalben. Ebenso die kleinen Hohlräume in den Außenwänden.  Die großen waren einmal Fenster. Von Zimmern, von Häusern, die dann verlassen wurden. Einmal schießt nah vor mir plötzlich eine Schwalbe von unten hoch. Etwa auf meiner Höhe legt sie die Flügel an und schaut unbewegt in eine Richtung. In meine? Kurz bevor ihr Steigen sich wieder in ein Fallen umkehrt, geht ein Ruck durch ihren Körper und sie flattert aufwärts und davon. „Ja“, denke ich, „fangt nur fleißig Mücken! Auf dass ich weniger zerstochen werde. Aber lasst mir bloß die hübschen Schmetterlinge leben!“

Schmetterling fliegt ab

Und die Bienen! Die Wespen? Die Motten?
Ich hole die zweite Portion Espresso aus dem Kännchen. Es steht auf einem kleinen zweiflammigen Gasherd neben der Spüle, eingelassen in eine kleine, gekachelte Arbeitsfläche unter einem spärlich beladenen kleinen Regal neben einer Holzkonstruktion, an der einzelne Utensilien hängen.

Hängebrett Küchenutensilien

Eine Schere, ein Korkenzieher, ein Schneid-Brett, eine Pfanne, ein Topflappen, ein … – was macht der denn hier? … Nussknacker. Meine Weihnachtsirritation verstellt mir ein Weilchen den Blick darauf, dass dies hier nicht immer eine sommerliche Urlaubsbleibe war. Hier haben Menschen ihr Alltagsleben gelebt. Mit genau dieser Holzkonstruktion und genau diesem Regalbrett. Und Weihnachten gefeiert. Und Nüsse auch zu anderen Jahreszeiten geknackt. Romantisches Seufzen innerlich. „Wie wenig man braucht!“
Unsere Urlaubswohnung gehört zu einem „Albergo diffuso“. In ganz Italien gibt es an verschiedenen Orten den Versuch, sterbende Dörfer wiederzubeleben, indem aus den verlassenen Häusern und Wohnungen Hotel-Unterkünfte werden, die sich – nur kleine Gassenwege voneinander entfernt – um ihr Zentrum schmiegen: Das Häuschen vielleicht, das als erstes restauriert wurde. Mit ein paar Souvenirs, einer „Empfangs“-Theke, vielleicht ein paar regionalen Lebensmitteln, vielleicht ein paar Karten und Info-Materialien. Davor in unserem Fall auch eine Piazzetta mit zwei, drei Tischen, an denen man ein kleines Frühstück einnehmen kann. Man ist ja im Hotel. Mit selbst gemachten, gesunden Lebensmitteln. Hier führt über die Piazzetta auch noch eine ausgefallene Brücke, die die Form eines Bootes nachahmt. Sie führt zu einer Dachterrasse mit atemberaubendem Ausblick, auf der man am Abend ein köstliches mehrgängiges Abendessen einnehmen kann.

Eigenwillige Brückenkonstruktion

Multipler Genuss: Die Häuser, die Gassen, die Speisen, der Wein, die Blicke, die Ruhe, die herzliche Innigkeit der „Macher: innen“ von all dem hier.

Dorfgasse Kalabrien

Die Idylle hier ist auch beim zweiten Blick noch perfekt. Die Menschen, die das hier restauriert haben, haben, wann immer möglich, mit den Materialien gearbeitet, die hier waren. Haben alte Böden freigelegt. Haben Kacheln aus dem Schutt geklaubt. Zusammengepuzzelt. Alte Regalbretter auch. Oder aus altem Holz neue gebaut. Gefundenes reanimiert und/oder neu arrangiert. Mit alten, wiederbelebten und jetzt neu wieder gelernten Handwerkstechniken z.B. einen ziemlich ramponierten alten Pizza-Holzfeuer-Ofen restauriert. Oder die Treppe in ‚unserer‘ Wohnung.

Alte Treppe restauriert

Und so sorgsam und nachhaltig, wie sie mit den alten Materialien umgehen, gehen sie auch mit den Lebensmitteln um. Da werden alte Getreidesorten wiederbelebt. Da wird mit den Händen aus eben diesem Getreide Pasta gemacht. Da wird die kalabrische Tomate selbst angebaut, das Olivenöl selbst hergestellt, der Wein, die marmellata. Die Menschen, die das hier erarbeiten haben, erzählen von all dem. Und man spürt die unendlichen Mühen, die es gekostet hat, ebenso, wie die Freude über jedes Gelingen.
„Wie nett die Menschen hier sind“, denke ich auch, als ich auf der Treppen-Gasse vor unserer Wohnung mit zwei älteren Frauen und einer jüngeren ins Gespräch komme, staunend beäugt von den drei Jungs, die sie im Schlepptau haben. Sie bitten mich, ein Gruppen-Foto von ihnen allen zu machen. „Cheaeaease!“ rufen sie und lachen. Anschließend plaudern wir. Es stellt sich heraus: Die zwei Älteren sind Schwestern und lebende Zeuginnen des Dramas, das sich in diesem Dorf abgespielt hat.  Sie erzählen, wie furchtbar es für sie als 9- bzw. 14-jährige war, hier wegzuziehen und in die USA auszuwandern. Dass ihre Eltern ihnen immer wieder erklärt hätten, dass es keine andere Möglichkeit gegeben hätte. Dass sie es aber nicht hätten glauben wollen und können. Es sei eine tränenreiche Zeit gewesen. Bei ihren Erzählungen streicht ihr Blick liebevoll die Gassen und sich windenden Stufenwege entlang, rechts und links hinauf und hinunter. An den restaurierten Häuserfassaden entlang und genauso an den verfallenden. Alte Zeiten lassen ihre Wangen sich röten. Und lassen sie lachen, als ihnen klar wird, dass sie heute die Stufen und Gassen eher meiden – die Gelenke, you know?! Kicher, kicher! Wir winden uns zwischen zwei Sprachen, wie die Gassen durch die Häuser. Wörter wie brüchige Decken oder Wände. Oder gleich ganz fehlende. Verschlossene Türen, die sich in der anderen Sprache dann doch öffnen. Oder auch nicht.
Eines Morgens, als die Chefin frische Handtücher bringt, spricht sie mich an. Sie habe gehört, ich wollte über das Dorf schreiben. So schnell verbreitet sich also der Gassen-Funk! Die Damen, die ich fotografiert hätte, hätten es ihr erzählt. Sie wolle mir im Auftrag ihres Mannes und ihres Schwagers sagen, dass diese nicht wünschten, dass sie im selben Atemzug genannt würden mit anderen Menschen in dem Dorf, z.B. dem Verwandten, bei dem die Besucher aus den USA jetzt wohnten. Und schon gar nicht mit den wenigen hier noch dauerhaft lebenden Menschen. Man habe bei seinem Projekt keinerlei Unterstützung von den „Ureinwohner: innen“ erhalten. Im Gegenteil. Man sei auch noch belächelt oder gar angefeindet worden. Als sie wieder geht, bleiben wir fragend zurück.
Nach ihrem Auftritt streifen wir anders hier herum. Unser Blick hat sich verändert. Wir sehen noch immer die hübsche, auch derbe, Lauschigkeit der wiederbelebten Teile eines Dörfchens, das einmal als Ganzes belebt war. Aber wir sehen deutlich aufmerksamer ebenso die Wunden, die das Verlassen in die Wohnstätten und in ganze Viertel gebrochen hat. Sehen Verfall. Bruch. Dreck. Verwahrlosung.

Haus im Verfall

Holzstühle im Verfall

Ich fotografiere auch das. Eine Spur zu aufgeregt. Was ich aber erst merke, als ich das Seufzen einer kitschigen „Lost-Place“-Schmonzette im Objektiv höre. Wir sehen auch Häuser, die noch bewohnt sind, aber eben nicht idyllisch restauriert. Sondern mühsam irgendwie bewohnbar gehalten. Die Alu-Haustür z.B., die die schöne alte Haustür abgelöst hat, als die wurmzerfressen war. Und deutlich weniger Pflege braucht. Und leichter reparierbar ist. Wir sehen notdürftig Abgedichtetes, Überdachtes, Geflicktes. Provisorisch Repariertes. Wir schauen an einer alten, nicht aufgehübschten Fassade hoch und sehen gerade noch einen Kopf aus einem Plastik-Fensterrahmen ins Dunkel dahinter verschwinden. Wir registrieren, dass, wenn wir überhaupt jemandem begegnen – meist sehr gebeugt gehenden älteren Menschen – unser vielleicht etwas zu leutselig geflöteter Gruß oft nicht erwidert wird. Wir lernen, dass das in Ordnung ist. Lernen, respektvoller zu grüßen. Und auch respektvoll nicht zu grüßen. Wir werden leiser. Ich fotografiere sogar leiser. Zunehmend gar nicht.
Wie immer, wenn wir irgendwo im Urlaub länger sind, haben wir eine Stammbar. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass ‚unsere‘ Stammbar hier genau in der Schnittstelle liegt zwischen dem alten Teil des Dorfes und dem neueren. Die Männer, die vor der Bar auf alten Plastik-Stühlen mit kleinen Schlucken Bier und möglichst wenig Bewegung versuchen, dem Gefühl zu entgehen, in der Hitze selbst auch geschmolzen zu werden: Auch sie erwidern unser Grüßen eher nicht. Selbst der Hund, der hier zum Stamm gehört, interessiert sich nicht für uns. Er gehört allen, werden wir aufgeklärt. Und alle haben ihn „Presidente“ genannt. Also nennen auch wir ihn so. Ein einziges Mal lässt er sich von mir streicheln. Kurz zuvor musste er erleben, wie ein Pinscher-Baby auf dem tätowierten Arm seines Besitzers der männlichen Besatzung der Bar ein zärtliches, beschützendes Betätscheln und Beschwärmen entlockt hat, wie er es wahrscheinlich nie erlebt hat, und wie man es von den Kerlen nun wirklich nicht erwartet hätte.  Er guckt zwischen den Männern immer wieder hoch und bellt. Und wird ignoriert. Irgendwann gibt er auf und legt sich auf einen Stuhl. Meine Chance.

Hund Martin

‚Unsere‘ Bar. Hier sitzen wir regelmäßig. Und immer wieder fangen wir von vorne an, über all das hier zu reden. Über die merkwürdige Schönheit von all dem hier. Die einen anlockt und zugleich wegschubst. Die einen verführt und verstört. Unsere Gespräche verirren sich immer wieder in den Gedankengassen sich garstig widersprechender Überlegungen. Wohnen wir hier gerade inmitten der Gentrifizierung zwei Punkt Null? Restaurierte Armut als Geschäftsmodell? Für wohlhabende Urlauber: innen wie uns? Die ihr schlechtes Gewissen, dass sie hierher geflogen sind, jetzt mit einer ordentlichen Portion Nachhaltigkeit mildern? Oder ist es einfach nur gut, dass für dieses „Hotel“ eben nicht alles neu angeschafft wurde? Was denken wohl die Menschen in unserer Stammbar in der Schnittstelle über ‚unsere‘ Idylle? Finden sie sie albern? ‚Wieso ziehen die im Urlaub in diese Bruchbuden?‘ Finden sie, dass die Hoteliers sich das Zentrum des Dorfes günstig untern Nagel gerissen haben? Dass sie es jetzt nutzen, um sich zu bereichern mit dem Geld spinnerter Öko-Touristen? Der Chef, der uns bei einer gemütlichen „Wir-machen-Pasta-von-Hand-Abendveranstaltung“ mit Hingabe die besondere ursprüngliche Getreidesorte „Senatore Capelli“ erklärt, fährt einen ziemlich wuchtigen, aus 6 Zylindern arrogant fauchenden SUV. Beneiden sie ihn? Und die Menschen, die in ‚unserem‘ Albergo arbeiten: Leben sie in einem der restaurierten Häuser? Nehmen sie die Unbequemlichkeit des wiederbelebten Alten in Kauf? Oder leben sie eher in einem der zwar alten, aber doch irgendwie notdürftig auf dem Stand der Technik gehaltenen anderen Häuser? Oder gleich in einem der neueren, die hier bei der Bar beginnen, und die zu bewohnen, zu heizen, zu putzen deutlich weniger Aufwand bedeutet? Und wenn sich all das hier weiterentwickelt haben wird zu einem Erfolgsmodell, werden sie dann überhaupt hier noch wohnen können? Wenn sich durch die Wiederbelebtheit und die sich ausbreitende „Armuts-Idylle“ die Immobilienpreise so in die Höhe geschraubt haben, dass sie für Menschen, die kellnern, nicht mehr bezahlbar sind?

Die ganze widersprüchliche Vielschichtigkeit verdichtet sich in dem stilisierten Emblem, mit dem der Albergo Diffuso hier wirbt. Darauf die zwei kleinen Felsen-Inseln unten im Meer, das Meer selbst und eine auf halbem Weg zwischen dem Dorf oben im Berg und dem neueren Häuserhaufen unten am Meer stolz sich in den Azurhimmel reckende Säule mit einem großen Kreuz obendrauf.

Säule mit Kreuz über Meer

Sie wird von einer breiten Zufahrt und von liebevoll gepflegtem Park-Gelände geehrt. Tagelang ist es für uns einfach eben ein Kreuz. Zu Ehren irgendeines Heiligen. Oder Marias, der Schutzpatronin der Fischer. Erst nach Tagen schauen wir genauer hin und stellen fest: Es ist ein Monument zu Ehren eines berühmten Mannes, der in ‚unserem‘ Dorf geboren wurde. Er erlangte zweifelhaften Ruhm als einer der Hauptarchitekten des Machtapparates von Mussolini. Die Erkenntnis erschreckt uns. Und zugleich rührt uns beinah die für uns unvorstellbare irgendwie unschuldig anmutende Ungebrochenheit, mit der das Monument ein inniges Bemühen um Nachhaltigkeit und ökologisch verantwortliche Dorf-Entwicklung begleitet.

Balcone Blick aufs Meer