09. September 2018
(Salerno-Agropoli)
Geschenkewochen
Ein Tag wie ein Geschenk. Ein großes Paket. Man macht es auf. Findet darin viele weitere Geschenke. Man macht eins davon auf. Etwas sehr Schönes. Und noch ein hübsch verpacktes Etwas. Man macht es auf …
Am Morgen gehe ich ins Hafenbüro in Arechi, um den Hafenplatz zu bezahlen, den elektronischen Key für den Strom abzugeben, Pfand zurückzubekommen, den auf dem Key gespeicherten Stromverbrauch zu bezahlen, den Fahrradschlüssel zurückzugeben, das Pfand für das Fahrrad zurückzubekommen. Jeder dieser Akte war nach dem Ankommen hier und ist jetzt mit einem schon fast an Kabarett grenzenden Aufwand an Formularen, auszufüllenden Leerfeldern, Unterschriften und Pfandhinterlassenschaften verbunden. Stefan hatte schon vermutet, man hätte hier vor einigen Jahren intensive Fortbildungen in Deutschland genossen.
Wer jetzt aber denkt, hier im Hafenbüro wäre Stempelmief-Stimmung mit missmutigen Gesichtern und Beamtengras auf der Fensterbank, liegt falsch. Die zwei, die hier sitzen und die zwei in einem Raum hinten, sind allesamt sonnig und nett. Man macht Späße, wechselt freundliche Worte, lächelt und wickelt dabei gut gelaunt den Berg an Formularen ab. „Nome di barca?“ Lächeln. Zum x-ten Mal buchstabiere ich. „Acca, o, n, e, Ypsilon. Come miele in Inglese.“ Lächeln. „Ah, si, ricordo“, Lächeln. Der junge Mann fährt mit dem Finger über meinen Personalausweis. Er ist sich nicht sicher, welches mein Geburtsort ist. „Borken“. Lächeln. „60 anni fa“. Lächeln. Gespielte Verwunderung bei ihm: „Oh, certo?“ Ich übersetze es innerlich geschmeichelt mit „So alt sehen sie gar nicht aus.“ Ich: „Per essere esatto: 62“. Lächeln. Er: „Poco fa sessanta tre.“ Das Feld mit dem Geburtsdatum hat er schon ausgefüllt und sich das Geburtsdatum gemerkt. Er weiß, dass mein Geburtstag nicht mehr weit ist. Lächeln.
Regelmäßig schaue ich vorbei im Hafenbüro mit irgendeiner Frage. Wie läuft das mit den Waschmaschinen? Elektronischer Schlüssel, Formulare, – natürlich. Wo können wir Gas kaufen? Wo ist ein Supermarkt? Jedesmal dasselbe Spiel des schönen Lebens. Fragen, Antworten, Formulare ausfüllen, Nachfragen, nochmal Antworten, wieder ein Feld im Formular, Bitten, Ablehnen ohne „Nein“ zu sagen, oder Erfüllen mit sechsmal „si“ und sechsmal „certo“. Alles sind willkommene Gelegenheiten für Kontakt, nicht nur zielgerichtete Abwicklungsszenarien.
Heute Morgen sage ich, dass wir jetzt fahren. Wie aus einem Mund sagen beide Nein. Das gehe nicht. Wir müssten bleiben. Wir seien molto simpatico. Natürlich gebe ich das Kompliment zurück. Kontakt.
Kann ein Tag schiefgehen, an dem einem am frühen Morgen wildfremde Leute sagen, man sei molto simpatico?
Ich frage, ob es wohl nötig sei, in Agropoli – dort wollen wir hin – vorab um einen Hafenplatz zu bitten. Er verneint. Nein, zu dieser Zeit der Saison nicht mehr. Schon hat er das Handy in der Hand. Versucht einen Anruf. Gibt mir gestikulierend zu verstehen, ich solle kurz warten. Erreicht niemand. Lässt sich meine Handy-Nummer geben. Er wolle mich anrufen, wenn er die Person erreicht habe. Er kennt offensichtlich einen ormeggiatore in Agropoli.
Dann Abschied von den beiden. Ich schlurfe gut gelaunt zurück. Plötzlich höre ich hinter mir Rufe, die ich erst nicht auf mich beziehe. Dann doch. Denn ich höre „Onnie! Allo! Onnie!“ Langsam übersetzt mein Hirn. „Honey, hallo! Honey!“ So heißt doch unser Schiff. Ich drehe mich um. Der junge Mann aus dem Hafenbüro kommt auf einem viel zu kleinen Fahrrad angefahren. Seine langen Beine drohen dauernd unter den Lenker zu stoßen. Entsprechend eirig fährt er. Er erreicht mich, bleibt stehen und übergibt mir einen Zettel mit einem Namen, – Andrea – und einer Telefonnummer. Hier solle ich anrufen, wenn wir ankämen. Andrea würde am „pontile communale“ arbeiten. Da würden wir einen Platz bekommen. Er würde von der Stadtverwaltung betrieben. Dort wäre die erste Nacht umsonst. Und lächelt. Und ich auch. Wieder ein Geschenk.
Das nächste Geschenk: Ein strahlend blauer Himmel. Weiche Wärme. Sommer in Reinform.
Wir packen noch eins aus: Die Wetterberichte waren sich einig darin, uns kaum Wind anzukündigen. Wir waren schon darauf eingestellt, einen großen Teil der Strecke zu motoren. Und jetzt weht doch ein guter Wind. Und auch noch aus einer guten Richtung. Wir können tatsächlich gut segeln. Wir dürfen wieder diesen wundervollen Moment erleben, wenn man den Motor abstellt und Schiff und Seele sich leicht auf die Seite legen und sich an den Wind anlehnen.
Stundenlang ziehen an uns vorbei: Vereinzelte Fischerboote, einige Pfirsiche, Trauben, Nektarinen, Kekse, einige Wolken, die vor allem dazu da sind, mit ihren weißen Klecksen das Blau des Sommers zu betonen, tiefsinnige Gespräche, geradezu von spiritueller Intensität, – selbst einfache Sätze plustern sich in dieser wohligen Wolke schönen Daseins dazu auf, sonnen sich, ziehen sich wieder zurück und machen Platz für komplett sinnfreie Albernheiten vom Kaliber „die 10 Seemeilen machen dann den Helmut auch nicht mehr fett“, tiefsinniges Schweigen, Lächeln, hohles Glotzen, weil man irgendeinem schemenhaften Gedanken nachhängt und selbst Gesichtsmuskel-Tätigkeit komplett übertriebener Muskelaufwand wäre bei der Hitze, zärtliche Berührungen, zärtliches wieder Loslassen, sich gegenseitig besonders schöne Blicke zeigen.
Irgendwann dann auch den auf ein Dorf, das sich wie eine Haube auf einem Hügel versammelt hat.
Agropoli, unser Ziel. Eine Viertelstunde, bevor wir in den Hafen einlaufen, rufen wir die Nummer an, die wir bekommen haben. „Pronto?!“ Es ist Andrea. Er weiß schon Bescheid. Als wir in den Hafen einlaufen, steht er auf der Pier und winkt mit beiden Armen, wo wir hin sollen. Er wartet mit Seelenruhe, bis wir das Schiff vertäut haben, erklärt uns ein paar Sachen, schaltet Strom und Wasser frei, schreibt ein paar Daten aus den Schiffspapieren ab. Alles, was er dafür braucht, hat er in einem Täschchen in seinem Fahrradkorb. Es ist sozusagen das ormeggiatore-Fahrrad. Sein Kollege Marco benutzt es auch.
Am Abend essen wir in einem Restaurant im alten Teil der Stadt oben auf dem Hügel. Wir sitzen an einer Brüstung mit einer unglaublichen Aussicht über die ganze Bucht.
Dass die Pizza, die wir uns als letzten, als Hauptgang teilen wollen, als erstes kommt, die Muschel-Spaghetti, die wir uns als zweiten Gang teilen wollten, danach und während der ersten auf die Gabeln gerollten Portionen die frittierten Bällchen, die wir uns als Vorspeise teilen wollten, nehmen wir mit Humor. Auch die Tatsache, dass wir die beiden Gläser Wein erst nach dem Essen trinken. Denn das Essen war ja nicht im Geschenke-Paket.
Wohl aber die Nacht im Schutz der Madonna am Ende der Hafenmauer.