28. August 2018

(Ischia)

Wir schlafen uns aus. Und wie! Das mehr als sanfte Plätschern einer großen, gut geschützten Marina schickt uns Schlaf in einer Menge, wie es bisher selten war auf unserer Tour. Manchmal beginne ich schon den Aufstieg aus den Kellergewölben des Schlafes. Dann, meine ich, könnte ich die Sirenen hören, wie sie leise hinter uns her meckern. Und kehre augenblicklich um ins Gewölbe.
Auf dem Weg zur Burg begegnen wir der lässigen Eleganz wieder.

Ischia Kai Stadtmitte

Doch sobald wir den steinernen Zeugen vieler Zeiten – die Aragoner-Burg, die uns der Kellner empfohlen hatte – zum ersten Mal gesehen haben, tritt die Eleganz zurück. Macht Platz für die Magie eines besonderen Ortes.

Ischia Aragoner Burg Ansicht von der Stadt aus

Wir gehen zu dem Aufzug, der uns in das Burggelände bringen soll. Die Türen schieben sich auf und eine junge Frau, die ihrem, sagen wir: Durchaus bedingt interessierten Freund aus dem Reiseführer vorgelesen hat, stoppt ihren Vortrag. Er war auf Deutsch. Wir bitten sie weiterzulesen. Sie freut sich und liest weiter. Auch draußen noch vor dem Aufzug. Sie hat soviel Vergnügen daran, dass sie gar nicht aufhören mag. Es ist so schön das zu sehen, dass wir auch keine Anstrengungen unternehmen, uns aus der Situation zu stehlen. Ihr, wie sagten wir?: Freund steht dabei. Er hat große Ähnlichkeit mit Peter Lohmeyer. Sein längliches Gesicht könnte Langeweile zu bedeuten haben. Könnte aber auch sein, dass er einfach vergessen hat, seinen Gesichtsausdruck seinem inneren Interesse angepasst zu haben. Schließlich trennen sich unsere Wege dann doch. Sie sollen sich noch ein paarmal kreuzen. Dann jedes Mal sehen wir einander verändert. In unseren Gesichtern ein stilles, respektvolles Staunen. Immer weniger Worte. Und die immer leiser. Niemand von uns möchte all die Geschichten verschrecken, die uns hier umwehen. Und die uns ein wenig mit ihnen mitwehen lassen. Hier haben Menschen gelebt, gelitten, geliebt, gekämpft, gebetet, haben es umsonst getan, sind erhört worden, haben Geist und Seele hinterlassen. Und wir dürfen es spüren. Auch die Liebste und ich reden kaum. Wir dürfen frei in dieser verlassenen Burg-Stadt herumlaufen. Wir finden herrschaftliche Orte,

Ischia Aragoner Burg Herrschaftliches Gebäude

stille Gassen aus grobem Kopfsteinpflaster,

Ischia Aragoner-Burg Kopfsteinplaster

Kapellen,

Ischia Aragoner Burg Kapelle

kleine Gemächer, Gärten, Gärtchen. Selbst das Cafe, in dem wir unseren Aufenthalt hier beginnen, atmet berührte Heiligkeit. Was erzählt die Taube von alten Zeiten, altem Glück, altem Leiden? Ich mag eigentlich Tauben eher nicht, aber dieser hier möchte ich unbedingt zuhören.

Ischia Aragoner Burg Taube auf Cafe-Dach

Wir steigen hinab in dunkle Gewölbe. Unten umfängt uns heiliges Weinen. Nimmt uns mit. Noch tiefer hinein in die Spiritualität dieses Ortes. An Felswände sind steinerne Sitzplätze mit Armlehnen gebaut. Stühle wie Skulpturen vom Steinmetz. Die Nonnen, die einst in den Gemächern oben lebten, setzten hier hinein Ihre Toten. Dort saßen sie bis nur noch Knochen von ihnen übrig waren. Abend für Abend kamen die Lebenden zu ihnen. Saßen bei ihnen. Meditierten über den Tod. Vielleicht weinten sie. Vielleicht schluchzten sie. Vielleicht weinten sie still mit ertrinkenden Augen, so wie wir jetzt. Gerade wollen die Tränen sich doch ausschütten, stürmt Lärm die Treppen hier herein. Eine scherzende, lachende, plappernde Gruppe älterer Italiener*innen poltert herab. Wenn ich drüber nachgedacht hätte, hätte ich mich das nie getraut. So aber gehe ich ihnen entgegen. Sage mit energischer Leisheit: „Signori! Per favore!“ und drücke den Zeigefinger gegen die Lippen. Sie hauchen einen kurzen Blick um sich herum, verstehen, – … und verstummen. Jedenfalls kurz. Dann kichern sie leise und reden zischelnd. Meine feuchten Augen lächeln: Immerhin ein Versuch von Respekt. Vielleicht haben ja auch die Nonnen, die hier meditierten, manchmal gezischelt und leise gekichert. Manche von denen, die da leblos wie lebend saßen, waren sicher auch lustige Zeitgenossinnen.
Wir wissen nicht, wie viele Stunden wir hier schon meandern. Jedenfalls mehr als wir Worte wechselten. Ein falscher Vergleich, natürlich. Und doch stimmt er. Langsam lösen wir uns wieder heraus aus diesem Gefilde. Wie ein Salzkorn, das auf einem Stück Holz vom Meer erzählt.
Immer wieder fangen wir an von dem zu erzählen, was wir da gerade erlebt haben. Und sind froh, dass wir am Abend in „unserem“ Cafe jenem Kellner danken können für seinen schönen Rat. Wir wissen nicht, wie, aber dass: In dem verwirrten Mann, der auch heute wieder da ist, lebt etwas von da oben.