Kleine kauzige Morgenmeditation

Schlafzimmer Pianova Großefehn

Ostfriesland. Ein einsamer Hof inmitten idyllischen Niemandslands. Mein Schlafzimmer, dessen Fenster zum Inneren einer Reithalle weisen. Der erste Morgen. Gegen sechs.

Ich werde wach. Von dem Geräusch? Jedenfalls ist es da, als auch die Ohren auf „Tag“ schalten. Eine rhythmische sich immergleich wiederholende melancholische kurze Tonfolge. Aus der Reithalle nebenan.
Ich schließe nochmal die Augen.
Öffne sie wieder.
Höre das Geräusch. Ein Kauz? Ich stutze. Sind das nicht zwei? Ich konzentriere mich darauf. Es stoppt. Wieder schließe ich die Augen. Es fährt fort. Ich höre zu. Ja, es sind zwei. Das eine etwas höher als das andere. Im absolut exakt gleichen Rhythmus. Es klingt harmonisch. Und stoppt wieder. Ich phantasiere: Ein Männchen und ein Weibchen. Heißt es nicht immer, dass das Flöten und Gurren und Singen der Vögel Lockrufe seien, um eine/n Partner:in zu finden? Aber die beiden haben sich doch schon gefunden!?
Ich stehe auf, gehe leise zum Klavier nebenan. Ich will sie nicht aufschrecken. Käuze haben doch gute Ohren? Ich will herausfinden, welche Töne sie singen. Der eine ist ein H, der zweite und dritte – die höhere Stimme – sind das D und das Dis darüber. Natürlich höre ich in dem tieferen Ton das Männchen und in den beiden höheren das Weibchen. Aber wer weiß …
In dem Moment, als ich, wieder zurück, das Schlafzimmer betrete, gehen die Rufe weiter.  Ich bilde mir ein, ich hätte die Beiden mit meinen Klaviertönen dazu animiert.
Das Schweben zwischen großer und kleiner Terz …: Der Blues … Sie müssen einander nicht mehr locken. Sie feiern das Leben, den Morgen, die Wiederkehr des Lichts, den Frühling, die Liebe. Ich halte das für Quatsch und bin zugleich fest davon überzeugt.
Und das sollen nun Rufe sein, die Unheil verkünden, wie es dem Kauz nachgesagt wird?? Wer’s glaubt, wird nölig.
Eine Dreiviertelstunde später sitze ich auf dem Balkon. Schaue auf eine Wiese, auf üppiges Gesträuch, auf Bäume. Hinter der ersten Reihe weiß ich einen kleinen See, sehe ihn aber nicht. Darüber dahinter ein verdunstender Frühmorgen. Hinter den sich langsam lichtenden Morgenwolkenschleiern das sanfte mildorangene erste vorsichtige Gleißen eines zum Außenrand hin ausklingenden Sonnenkreises. Noch unscharf.
Ich höre tiefe Stille, obwohl ich eingehüllt bin von einem Gewimmel von Fiepen, Zirpen, Flöten, Gurren. Auch Rufen und Keckern.
Von rechts hinter über mir nähert sich ein vielstimmiges quakendes Plappern. Ich schaue auf. Ein großer Schwarm von – ich weiß es nicht – Wildgänsen? Wildenten? – zieht diagonal durch mein Blickfeld. Er bildet eine Eins. Die Formation löst sich immer wieder vielflatternd auf und zugleich nicht. Allmählich schiebt die längere Linie über die rundliche Spitze zu einem sanften Bogen, schließlich zu einer Linie und wieder zu einer Eins. Ich folge ihr, bis sie mit den Schlieren der Morgenwolken verschmilzt.
Eine Weile danach ein einzelner größerer Vogel. Er zeichnet die kreuzende Diagonale durch mein Blickfeld. Zielstrebig. Als müsste er wo hin. Der Schwarm nach NO. Der Einzelne nach SO.
Himmlisches Leben.
Einige hundert Kilometer östlich tobt in diesem Moment in der Ukraine weiter unlösbar verzweifeltes Töten.
Sein wildes Schreien. Die zwitschernde Stille.
Das kann nicht zusammen sein. Aber es ist. Und ich mittendrin. Kaum zu haltende Wahrheit.
Ein Flapp-Geräusch. Eine leise Erschütterung. Eine zärtliche Berührung. Eine der Katzen, die hier leben, ist auf die Bank gesprungen und streift an meinem Oberschenkel entlang. Mit sanftem Druck streiche ich fingerspitzig durch ihr Flauschfell.
Ich gehe wieder hinein. Öffne die Tür. Schließe sie hinter mir. Gehe zur Kaffeemaschine. Ziehe die Kaffeekanne unter dem Filterhalter an der Kaffeemaschine weg. Fülle die Tasse. Stelle die Kanne zurück. Gehe zur Tür. Öffne und schließe sie. Gehe zur Bank und setze mich wieder. Und muss grinsen: Ich habe mich die ganze Zeit darauf konzentriert, möglichst wenig Geräusch zu machen. Selbst beim Gehen in Pantoffeln. Dabei könnte ich hier ja niemanden stören.
Doch – mich selbst – und die Stille.
Direkt anschließend beginne ich, dies hier zu schreiben. Wieder im Bett. Jetzt sitzend.  Hier ist es so schön warm. Erst nach dem vorerst letzten Satz höre ich zum ersten Mal heute wieder einen Motor.

Einige Stunden später erzähle ich dem Hofbesitzer ganz begeistert mein frühes Erlebnis mit den Käuzen. Er holt mich grinsend aus meiner morgendlichen halbschlafig spirituell verführten Gutgläubigkeit: „Keine Kauze. Nur ganz ordinäre Tauben.“
Ich höre die Aufnahme von heute Morgen nochmal. Stimmt wohl: Keine Käuze. Und auch keine Blue-Note. Kein Dis. Ein E. Kein Blues. Doppeltes Erwachen.
Schade.
Andererseits aber auch nicht: Keine Unheilsverkündung.

Wieder einige Stunden später höre ich bei einer Wanderung an einem lauschigen Moorentwässerungskanal entlang einen Kuckuck. Wieder stutze ich. Singt der nicht…? – – Nochmal höre ich die Aufnahme. Ja. Er singt dieselben Töne wie die höher singende Taube heute Morgen. Aha. Ich befinde mich also in der H-Moll-Gegend. Und er ist ein noch junger Kuckuck. Er singt einen ordinären Ganztonschritt. E-D. Er muss die Kuckucks-Terz wohl noch lernen.

Heute werde ich keine Nachrichten schauen. Einmal keine Nachrichten schauen.

(Wer die Welt hier erleben möchte, schaue hier: www.pianova-reitakademie.de)