Das ist ungerecht.
Wenn ich bei einer Aufführung der Ruhrtriennale noch vor Beginn der Aufführung ein Foto von dem Bühnenbild machen möchte, um Tage oder Wochen später wenigstens einen kleinen Erinnerungsimpuls zu haben, kommen sofort freundliche Mitarbeiter/-innen in corporate-identifizierten schwarzen Poloshirts auf mich zu und fordern mich dezent auf, – man will mich ja vor den anderen im Publikum nicht beschämen –, das doch bitte nicht zu tun. Deshalb hab ich es am Freitag, als ich Medea.Matrix gesehen habe, – o.k., nicht gar nicht, aber doch sehr sehr heimlich und mit viel schlechtem Gewissen getan.
Karin Fischer aber durfte für ihre Rezension des Stückes im Deutschlandradio offenbar sogar O-Töne aufnehmen.

Ist das ungerecht?
Schon erst recht, wenn der O-Ton für eine Rezension benutzt wird, die das Stück nichts anderes als runtermacht.
Ich dagegen, der mit größtmöglichem Respekt vor der Arbeit der Künstler seine Verunsicherung erstmal mit rausnimmt und schweigt, und weiter schweigt und dann, nach und nach, im Gespräch mit den anderen, sogar noch Tage später, entdeckt, was dieses Stück mir erzählt, – ich dagegen also darf nicht mal ein Foto machen.

Heute beim Frühstück fragt die Liebste, als wir ein weiteres Mal über unser Erlebnis am Freitag reden, mit der ihr eigenen zarten Ironie, was wir eigentlich über das Stück denken „müssen“. Ob ich schon mal nachgeguckt hätte. Wir suchen und finden: Eine Rezension im Deutschlandradio. Sie stammt vom Tag nach der Uraufführung.
Wir hören sie uns an und fragen uns, ob eigentlich ein/-e Kulturjournalist/-in nicht der Wahrheit verpflichtet ist. Die Autorin der Rezension berichtet, die Figuren, denen man begegnet, während man auf den eigentlichen Aufführungsraum zugeht, hielten Plastikschüsseln mit je einem Ei in den Händen. Komisch, wieso erinnere ich mich nur an eine Plastikschüssel mit einem Ei, ganz bestimmt aber nicht an viele? Wieso erinnere ich mich daran, dass einige der Frauen eben keine Plastikschüssel in der Hand hielten? Wieso erinnere ich mich daran, dass ich mich gefragt habe, wie das Ei und das, was noch in diesen Schüsseln lag, – nämlich z.B. prallgrüne runde Blätter einer Pflanze, von der ich noch heute nicht weiß, wie sie heißt, zusammengehören? Hab ich das falsch gesehen?
Habe ich mich getäuscht, als plötzlich diese – übrigens blaue, übrigens Plastik- – Schüssel als Projektion in dem Stück wiederauftaucht? Diesmal mit einer Hand, die mit blauer Farbe ein Ei benetzt?
Die Rezensentin bezeichnet die Frauen als „erratische“ Gruppe. Wieso habe ich weder am Anfang, noch im weiteren Verlauf des Stückes, als die Frauen sich zu einer Art Sprechchor versammeln, der eindeutig christliche Konnotation erhält, als die Frauen eine Art Kommunion vollziehen, wieso habe ich an keiner Stelle das Gefühl, sie seien „sich verirrend“ ? Im Gegenteil. Für mich gehören sie genauso jeweils genau da hin.
Und wir fragen uns, ob ein/-e Kulturjournalist/-in nicht wenigstens den Versuch unternehmen sollte, der Irritation, dem Schweigen, dem suchenden Tasten, die das Stück auslösen, ein kleines Stück Wegs folgen sollte. Vielleicht hätte sie dann manches entdeckt. Z.B., dass dieses Stück kein Vorhang-Theater ist, bei dem am Ende an der Zahl der „Vorhänge“ der Erfolg des Stückes, ja sogar in Konkurrenz bisweilen der Erfolg einzelner Schauspieler/-innen gemessen wird. Nein. Man betritt einen Raum, geht durch ein Geschehen, setzt sich auf einen Platz, die Aufführung ist schon im Gange und geht jetzt auf einer Bühne weiter. Sie endet irgendwann mit einer sich auditiv und visuell steigernden Bild-Inszenierung, die mit gar nicht so viel Deutungsaufwand als subjektives Erleben einer Geburt anmutet. Ein gebogener Raum, wie das Innere einer Röhre, dunkle wie überdimensional vergrößerte Haare anmutende Streifen vor hellem Weiß. Das Weiß wird immer heller, weißer, gleißender. Die Streifen verschwinden. Auf einem Bildschirm erscheint: „Die Geburt der Tragödie“. Auf einem Bildschirm erscheint: „Exit“. Die Vorführung ist zu Ende. Das Stück beginnt. In jedem einzelnen. Nur offenbar in der Rezensentin nicht.
Sie schwadroniert eine „Ja, ja, kennen wir alles“ – scheinbedeutsame Beliebigkeit in das Stück hinein und je schärfer sie stechen möchte, umso mehr entwaffnet sie sich ihrer Worte bis zur Lächerlichkeit.
Die (bekannte) Schauspielerin im Zentrum der Bühne wird als Spielball von „Vergeudung“ bezeichnet, weil sie eben extrem distanziert spricht und nicht im klassischen Sinne Rolle spielt. Sie verlässt ihren Platz nicht, ändert nicht ihre Pose, bewegt sich kaum. Nun ist es aber für eine Kultur-Spezialistin eine geradezu vermessene Unterstellung, hier würde schauspielerisches Potential „vergeudet“. Denn es unterstellt, die Schauspielerin hätte nicht im Wissen um ihre „Rolle“ diesem Spiel zugestimmt, hätte nicht genau das gut gefunden. Und es unterstellt, die Macher/-innen des Stückes wären kein Team, das genau solches reflektiert. Allein die Tatsache, dass am Ende eines Theaterstückes das Publikum irritiert ohne Klatschen den Raum verlässt, ist bemerkenswert, – auch wenn man es nicht goutiert.
Beinah unverschämt am möglichen Kern des Stückes vorbei schleudert Frau Rezensentin, als sie das Fehlen von „Einsichten“, von „Erfahrung“ bemängelt und nur „kunstgewerbliches Bemühen“ attestiert. Soll das etwa heißen, man möchte im Theater gefälligst mit Einsichten und Erfahrung beliefert werden, die man dann begeistert beklatscht und über die man dann beim Gläschen irgendwas noch ein bissen gebildet daherquatscht, sich dann wieder ungerührt dem Drama des eigenen Lebens hinzugeben, ohne zu merken, dass es eins ist? Theater als Emotionenlieferant für die Gebildeten, die wohlhabend genug sind, sich solcherart Lieferservice leisten zu können.
Vollendete Entwaffnung dann bei der Schluss“pointe“, das Stück sei albern genug, in Berlin gefeiert werden zu können, nicht aber geeignet für das „ehrliche“ Ruhrgebiet. Solcherart realitätsferne Verkitschisierung möge man doch bitte Wolle Petry und Herbert Grönemeyer überlassen!
Was nun? Na ja, z.B.  einfach etwas mehr Zeit nehmen und zunächst mal über den Titel nachdenken. In diesem Fall: „Medea.Matrix“. Vielleicht stellt sich dann das, was man gerne „Bilderflut“ nennen möchte, anders dar, erst recht dann, wenn man sich erinnert, dass die Bildthemen sich jeweils ausgehend von einer Projektionsfläche auf die anderen verteilen, solange bis alle erfasst sind, und man eben gerade nicht von Bilderflut sprechen kann.