Brief an Infantino

Wer wollte nicht verstehen

10 Jahre lang von 2005 bis 2015 musste in Nordrhein-Westfalen eine Lehrerin, die ein Kopftuch tragen wollte, sich fragen, ob sie den Mut hat, das Risiko einzugehen, vielleicht ihren Job zu verlieren, wenn sie ihren Wunsch in die Tat umsetzt. Die CDU-geführte neue Regierung hatte als erstes Gesetz in ihrer Regierungszeit ein Verbot des Kopftuches beschlossen. Wer wollte nicht verstehen, wenn sie dieses Risiko lieber nicht eingegangen ist.

Ein junger Vater in der Probezeit an einem neuen Arbeitsplatz, dessen Chef von ihm verlangt, keine Kinderkrankentage zu nehmen, um seine Präsenz am Arbeitsplatz nicht zu unterbrechen, muss sich fragen, ob er das Risiko eingeht, dass er nach seiner Probezeit nicht übernommen wird, wenn er sich auf sein gesetzlich verbrieftes Recht beruft und für die Kinderkrankentage kämpft. Wer wollte nicht verstehen, wenn er dieses Risiko lieber nicht eingeht?

Ein junger Gastronom hat ein Schild an seine Eingangstür gehängt. Es weist darauf hin, dass sich hier „alle duzen“.  Der Kreis kleinstädtischer Honoritäten, der sich regelmäßig hier zum Frühstück trifft, ignoriert das. Siezt das Personal, und lässt es – möglich durch die aufgebaute Distanz – tanzen, wie man Personal eben tanzen lässt. Der junge Gastronom muss sich fragen, ob er das Risiko eingehen will, diese Kundschaft und auch die Werbung für seinen Laden, die von diesem honorigen Kreis ausgeht, zu verlieren, wenn er diesen Menschen gegenüber auf die an der Eingangstür erbetene „Kultur“ im Laden erinnert und bittet, dies zu respektieren. Wer wollte nicht verstehen, wenn er dieses Risiko lieber nicht eingeht?

Dänische Fußballer haben den Wunsch, beim Training (ja: beim Training!) während der WM in Katar eine Armbinde zu tragen mit der Aufschrift „Human rights for all“. Sie möchten damit auf die traurige Menschenrechtssituation in dem Land hinweisen, in das sie reisen, um an der Fußballweltmeisterschaft teilzunehmen. Der Fußballverband, der diese WM veranstaltet, und bei dem sie die Erlaubnis dafür beantragt haben, verbietet das. Die jungen Fußballer müssen sich nun fragen, … ehm, … müssen sich fragen, … ja also …, müssen sich fragen, … na ja, also mindestens müssen sie sich fragen, ob sie nicht in Zukunft lieber auf die sprachlichen Insignien kämpferischer Männlichkeit verzichten. Als da wären: „wir müssen gallig in die Zweikämpfe gehen“, „wir müssen über den Kampf zum Spiel kommen“, „wir müssen auch mal härter einsteigen“, „wir haben dem Druck standgehalten“, „wir brauchen Eier“.

Ich finde die Korrektheit der Fußballer, das Tragen einer solchen Binde überhaupt zu beantragen und ihre Scheu, sich über das Verbot einfach hinwegzusetzen, zwar nicht unbedingt euphorisierend oder Vorbild-tauglich, aber beruhigend. Sie sind eben doch ängstliche kleine Fifa-Beamte. Sie sind Pussis. Wie schön. Wer wollte nicht verstehn …