Berlin

Berlin geschlossene Apotheke

Ob er jede Nacht dort steht? Auf uns wirkt es so. Wenn wir am späteren Abend noch einmal auf eine Runde aufbrechen oder zurückkommen, fügt es sich immer so, dass wir eine der beiden Straßen nehmen, die schräg aufeinander zulaufend am Ende ein Dreieck formen. In dessen Spitze liegt die ehemalige Apotheke. Dort entdecken wir ihn am ersten Abend. Und am zweiten. Am dritten Abend warten wir schon darauf, dass uns der Klang seiner Stimme und seiner Gitarre entgegenweht.
Erst, wenn wir dann tatsächlich um die Ecke biegen, sehen wir ihn.
Dann hellt der Klang kurz auf.
Wird echt.
Um gleich danach, beim Weitergehen, langsam wieder aus dem Tönen der Stadt ausgelöst zu werden.
Er ist ein wirklicher Mensch. Vielleicht obdachlos. Vielleicht arm. Hilfsbedürftig. Vielleicht auch nicht.
Oder ist er mehr eine Figur aus einer Erzählung? Ein kurzes Auf- und Ableben einer Geschichte?
Er hat den Kopf über seine Gitarre geneigt. Liegt seine Geschichte ihm schwer im Nacken? Oder ist er einfach ins Musizieren hineingesunken?
Er ist ein Könner. Jedenfalls war er das. Man hört die Gewandtheit von Fingern und Handgelenken. Wie sie Momente von grooviger Stimmigkeit kreieren. Man hört eine Stimme, die mit ihrem schneidend kehligen Sound fast so kunstvoll nicht singen kann wie Bob Dylan. Das einschlägige Song-Vokabular: Station, Love, Waiting, Lost … . Für einen Moment fügt sich sein ganzes Tun in verlockenden Klang zusammen.
Und bröckelt dann wieder auseinander.
Man möchte sich seine Existenz erklären. Wie man sich Begebenheiten eben immer zusammenreimt beim Streifziehen durch die große Stadt.
Aber er verweigert das. Er ist kein Straßenmusiker. Es gibt kein Gefäß, in das man Geld werfen könnte. Es gibt vor ihm auch keinen Platz, auf dem sich Menschen sammeln könnten. Im Gegenteil. Vor ihm gibt es einen schmalen Weg, der geformt wird von weißen Baustellen-Begrenzungs-Aufstellern. Man kann hier nur schnell um die Ecke huschen. Fußgänger und Radfahrer müssen sich umeinander herumdrücken. Erst recht jetzt, – in Corona-Zeiten. Hören könnte man ihn ohnehin nur unmittelbar vor ihm, denn rechts und links von ihm sind Wände. Vor ihm eiliges Passieren.
Es ist, als wollte er gar nicht, dass jemand stehen bleibt.
Ich phantasiere, dass er sich all das gar nicht fragt. Der Apothekeneingang ist einfach sein Platz. Die erhöhte Position zwischen den Wänden seine Bühne. Er gehört hier hin. Nicht, weil es irgendeinen Zweck hätte. Sondern weil es zu der Geschichte dieser Figur gehört.
Punkt.
So wie es zu dieser Stadt gehört, dass Hauswände beschmiert sind. Manche eher, – im wahrsten Sinne des Wortes: beiläufig, – mal eben im Vorbeigehen mit dem Edding dran lang. Andere aufwändiger. Manche in solcher Höhe an so schwer zugänglichen Stellen, dass man sich fragt: ‚Wie sind die da hingekommen?‘
Mit absurder Zwanghaftigkeit sehe ich immer wieder hin und bewerte. Dies ist schön. Das ist nur Geschmiere. Das ist besonders schön. Das ist schön und hoch. Das ist nur hoch. Der Spießbürger aus der Provinz bewertet Street Art. Und maßt sich an zu bewerten, dass „mal eben mit dem Edding dran lang“ eben keine ist.
Irgendwann fällt mir auf, wie idiotisch das ist. Beides. Zum einen die Bewertungs-Endlosschleife selbst. Jeder Blick beim Herumstreifen fängt beschmierte Wände ein. An jeder Ecke ein neuer Endlosschleifen-Anschub. Wie ein nicht enden wollendes Kreisen der Windows-arbeitet-noch-Punkte. Man kommt kaum zu was anderem.
Zum anderen die Bewertung. Als ob es beim Bemalen von Wänden um museale Kunst ginge, die ich als Besucher dann schön oder nicht so schön finde, und mit deren Betrachten und Beplaudern ich mein Leben aufhübsche.
Und dann kann ich es endlich einfach als Botschaft an mich annehmen: Du, ja du da! Mit dem neugierigen Endlosschleifen-Blick. Du gehst irgendwann zurück in dein Einfamilienhaus. Wir aber, wir leben hier. Oft genug nicht viel mehr als über… . Wir streifen durch die Häuserschluchten! Greifen zu, wenn wir eine Wohnung finden, die wir überhaupt bezahlen können. Nachdem wir ein paar Monate bei Kumpels untergekommen sind.
Wir lassen uns nicht übertünchen. Wir sind da. Und wir bleiben da. Diese Stadt gehört auch uns. Vergesst das nicht. Egal wie hübsch oder hässlich ihr unsere Zeichen findet.

Graffiti auf Friedhof St Jacobi Berlin

Natürlich thronen auch am Rand des Friedhofs die Zeichen aufbegehrender Stadtgewächse. Die verwitternden Gräber und die verwitternden Bilder begegnen einander mit milder Nachsicht. Kommen, um zu vergehen.
Wir treten durch den Eingangsbogen des Friedhofs. Ein bisschen scheu. Wir sind ja Voyeure. Wir trauern nicht um einen Menschen, der hier begraben liegt.
Mitten hinein in die Scheu die Stimme der Frau, die uns entgegenkommt. Ihre pinkrötlich gefärbten Haare verbinden sich mit dem schicken dunkelblauen Steppmantel und den abgelatschten Man-weiß-nicht-so-genau-was-für-Schuhen mit einer Selbstverständlichkeit, wie es sie nur in Berlin gibt. (Denkt das Landei Trotzkopfdumm.)
Sie pfeift auf Gesprächs-Anfangs-Konvention und fängt einfach an zu reden. (Einen kleinen Moment brauchen wir, bis wir begreifen, dass sie uns meint.) Sie gehe auch gerne auf Friedhöfe (Ah, – sie denkt, dass wir gerne auf Friedhöfe gehen). Obwohl sie hier ja eigentlich nüscht verloren hätte (Oh, – hat sie unsere Scheu gesehen?). Ihr eigener Vater sei ja bei ihr auf’m Balkon. (??) Sie sieht die beiden Fragezeichen – und erzählt. (Dabei kommt sie uns immer ein bisschen näher und wir weichen zurück. Kleines friedhöfliches Corona-Ballett.) Sie habe ihren Vater jahrelang gesucht. Dann endlich gefunden. In Schleswig-Holstein. Sie hätte ihn ja gar nicht gekannt. Er sei ja da schon krank gewesen. Und dann habe sie ihn 14 Monate gepflegt. (Ihre Augen schimmern sich hinter einen feuchten Vorhang zurück.) Und dann sei er ja gestorben – im August. Und jetzt sei er eben auf dem Balkon. Da sei er bei ihr. Das sei viel schöner als hier auf dem Friedhof. Und Friedhof – das sei ja auch sündhaft teuer. Der Bestattungsunternehmer habe das möglich gemacht. Das gehe „irgendwie über Holland“. Der Leichnam sei da hin – dann wieder zurück. (Verlegenes Lächeln. Genauer will sie das nicht erklären. Wir wüssten es zu gern genauer, aber belassen es bei zwei scheuen, ein-Wort-Nachfragen, die ins Leere laufen.) Ja, – und jetzt habe sie auf dem Balkon eben ein, …, – ein, …-. Die Liebste kommt zu Hilfe: „Einen schönen, kleinen Traueraltar.“ Ja – genau!, sagt sie. Offenbar freut sie sich über diesen würdevollen Ausdruck. „Von Obi“, schiebt sie nach. Wir stutzen. (Bestimmt falsch verstanden. Fragen aber nicht nach. Irgendwie passt neugieriges Klären-Wollen gerade nicht. Also gut: Von Obi).
Das Gespräch endet genauso unvermittelt, wie es begonnen hat. Wir wünschen einen guten Tag. Und gehen wieder auseinander. Es kommt mir vor, als wären wir Stadttauben, die hier und da Geschichten aufpicken.
Kurz danach sehen wir einen größeren Grabstein. Darauf drei verschiedene männliche Namen. Kein verwandtschaftlicher Zusammenhang erkennbar. Wir schmunzeln. Vielleicht werden manche Berliner*innen beerdigt, wie sie gelebt haben. In Wohngemeinschaft. (Erst woanders gewohnt. Dann hierhin gezogen. Bot sich gerade an. Aber noch nicht umgemeldet. Muss ich unbedingt noch machen. Noch bei der anderen Wohnung gemeldet. 1. Wohnsitz aber noch zuhause. Nein, … also, ja … – mein Zuhause ist hier, aber wo ich herkomm. Wegen Kindergeld. Der Hauptmieter ist noch hier gemeldet, – irgendwie wegen Steuer, weiß ich nicht so genau, aber der wohnt hier gar nicht. Der hat irgendwo in Brandenburg `ne Datsche gekauft. Keine Ahnung, wo. Wenn der Vermieter kommt, rufen wir den immer an. …) So liegen sie nun hier nebeneinander. Haben sogar einen Grabstein. Aber kein Reim will kommen, wie sie zusammengehören. Immerhin sind sie hier gemeldet. Auf dem Grabstein.

Hamburger Bahnhof Katharina Große

[Bildnachweis: „Katharina Grosse. It Wasn’t Us“, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2020 / Courtesy KÖNIG GALERIE, Berlin, London, Tokyo / Gagosian / Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien © Katharina Grosse / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: Nic Tenwiggenhorn]

Katharina Grosse Hamburger Bahnhof Außengelände

Alles, was ich in Berlin heute und gestern und je gesehen habe, rast wie in einer kinematographischen Zeitraffer-Schleife über meine Netzhaut. Hält mich staunend an genau dem Platz fest, an dem ich gerade stehe, als ich den Blick diesem farbstrotzenden Gebilde zuwende. Es ist wie ein endgültiges Wahrwerden von Comic, Buntheit, Graffiti, lustvollem Kleckern. Und das auch noch dreidimensional Ich frage mich, ob es viel Mut braucht, einem ehrwürdigen Museum diese Farborgie ins Erdgeschoss zu fluten und auf die Wege und die Plätze und die Wände draußen drumherum. Auch wenn es bestellt ist. Bezahlt sogar. Unter anderem von VW.
Eine Farborgie wie mit Schwung in die ehemalige Wartehalle hineingeschüttet, staut sich an der Außenwand mit der Glasfront und stößt wuchtig durch sie hindurch hinaus auf die Wege, die Plätze, die Wände draußen. Auch die dynamische Bewegung, die streng gerade schräg verlaufende Linien ebenso wie schwungvolle Farbbögen kreieren, lassen das Cortooneske in Graffitis und anderen Zeichen in Wänden und an Waggons in mir aufleben.
Es ist so eine rigorose Aneignung eines Raumes und seiner Umgebung, dass es mir vorkommt wie Street Art auf den Punkt gebracht. Als würde hier mit überbordendem Spaß an der Farbe lustvoll der Gegenpol zum architektonischen Gegängel auf’s Neue aufgeladen. Ich kann mir kaum noch vorstellen, je wieder zwischen tristen Bankgebäuden – und seien sie noch so einschüchternd scheinschön stahlbewehrt verglast – oder in einer tristen Einkaufsmeile – und sei sie noch so verlockend verziert von Insignien des Konsum-Genusses – herumzugehen ohne schmerzhafte Sehnsucht nach Farbe und nach Spiel, nach Wirklichkeit.
Und diese Farbpracht thematisiert sogar auch den Verfall. Als würde dieses liebevoll Gekleckste mir auch sagen: „Ich weiß, ich werde verblassen. Und das ist gut so.“ Die Reste der Wandbemalungen in der Stadt, die noch als blasse Schemen auf meiner Netzhaut sich mit den Bildern vom Vergehen und marode Werden mischen, lassen sich anstecken und blühen wieder auf.

Michael Schmidt Bild aus Serie Waffenruhe

[Bildnachweis: Michael Schmidt, o.T. aus Waffenruhe / Ceasefire, 1985-87, Bromsilbergelatineprint, Bildmaß: 49,8 x 59,5 cm, © Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt]

Michael Schmidt Bezirksamt Wedding Beamter

[Bildnachweis: Michael Schmidt, Stadtoberinspektor beim Bezirksamt Wedding, aus Berlin- Wedding, 1976-78, Bromsilbergelatineprint, 43,4 x 46 cm© Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt]

Nur eine Treppe höher und der Bild-gewordene strenge Gegenpol zeigt in Schwarz-/Weißfotografien die Bauten, die Gegenstände und die Menschen, die in der von Graffiti kommentierten Welt ihren Alltag leben. Fotografien von Michael Schmidt. Die kühle Strenge dieser Bilder. Ihr scharfes Konstatieren von Tristesse.
In meinen Augen war es schon angesammelt durch die zahllosen Blicke in dieses Berlin hinein. Jetzt blendet es schmerzhaft auf den Punkt gebracht wieder auf. Der Staub des Alltags, den Kunst von der Seele wäscht, wird er hier aufgewirbelt und verursacht heftigen trockenen Hustenreiz im Gemüt. Diese Bilder zeigen das Berlin der 60er bis 90er Jahre. Sie zeigen eine Stadtlandschaft, deren Risse heimlich sich vermehrende Unkräuter aus Farbe genauso einladen, wie die Fugen zwischen den Pflastersteinen die echten Unkräuter.

Gedenkstätte Mord an Rosa Luxemburg

Die traurige Intensität der Fotografien von Michael Schmidt brodelt wieder auf, als wir schon von Weitem diesen Ort wiedererkennen. Das kalte Nass unter der Lichtensteinbrücke, das ein halbes Jahr lang Rosa Luxemburgs Grab war. Wieder schweigen wir betreten. Wieder wird uns bewusst, dass es diese Menschen wirklich gibt, die in einem schnöden Akt der brutalen Gewalt eine Person ermorden, der sie das Recht zu leben absprechen, die sie verhaften, in Hinterzimmern unter Folter (wahrscheinlich vergewaltigen. Bietet sich ja gerade an), sie dann beschließen zu töten, aber so, dass es wie die zufällige Tat eines aufgepeitschten Mobs auf der Straße aussehe. Also schleppt man sie aus dem Haus. Prügelt sie draußen mit Gewehrkolben bewusstlos, wirft sie in ein Auto. Einer springt beim Losfahren auf das Trittbrett und schießt ihr in den Kopf. An der Lichtenberg-Brücke wirft man sie wie Müll in den Landwehrkanal. Wieviele mögen beteiligt gewesen sein? 20? 30? Alle mit derselben finsteren Selbstverständlichkeit? Oder doch der eine oder andere mit kleinen Lichtern von Skrupeln?
Es ist kaum auszuhalten. Erst recht, wenn einem klar wird, dass genau das jetzt gerade irgendwo passiert.
Auch hier.
Kann man dagegen anmalen? Anfotografieren? Ansprayen? Auf Fassaden? Im Museum?

Oder antanzen?

Tanzperformance Raphael Hillebrand

Dass wir ihn überhaupt sehen können, ist eine dieser berührenden Geschichten, die manchmal entstehen, wenn man einfach erstmal wartet. Schon am Tag vorher wollten wir die Performance sehen, aber am Telefon hieß es, sie sei ausverkauft. (Corona beschleunigt das Ausverkauft-Sein exponentiell.)
Heute gehen wir einfach hin. Gucken, was passiert. Es ist wieder ausverkauft. Und 6 Personen, die auch auf einen glücklichen Zufall hoffen, sind noch vor uns. Nach und nach geben sie auf. Schließlich stehen nur noch wir vor dem Eingang. Wir sind eigentlich innerlich schon abgewandt und bleiben aus unbekanntem Grund doch noch stehen. Plötzlich kommt ein Rasta-Schlaks aus dem langen Eingangsflur. Er strahlt. Es gebe doch noch zwei Plätze. Wir sollten uns beeilen. Die Vorstellung müsse eigentlich schon laufen. Freudig irritiert huschen wir hinter ihm her.
Und werden beschenkt.
Ein junger Mann tanzt seine Geschichte. Break-Dance Ballett. HipHop. Die Musik aber stammt von einem Cellisten, der mit auf der Bühne sitzt.
Auf der Bühne im Vordergrund auch ein Tisch. Darauf ein Sammelsurium von Zeitungsausschnitten und vergilbenden Fotos. Ab und zu – beim Erzählen – greift er ein Dokument heraus und heftet es an eine Plexiglas-Scheibe, die von der Tischkante hochragt. Vor dem Tisch eine Filmkamera. Sie fährt an den Bildern entlang, greift das neu aufgehängte heraus, zoomt es groß und projiziert es auf eine schräg hängende Leinwand am hinteren Ende der Bühne. Er tanzt in diese Projektion hinein. Nimmt sich selber auf dabei. Verfremdet die Aufnahme. Tanz mit sich selbst auf der Leinwand vervielfältigt.
Die Geschichte, die er erzählt, ist die der sattsam bekannten Migranten-Risikogruppe. Die Mutter Deutsche. Der Vater Afrikaner. Lügen. Trennungen. Die Mutter und der Bastard.
Zorniges Aufbegehren in der Schule. Eine Klassenlehrerin, die sich um ihn sorgt. Und ihm immer wieder eine Moral entgegenhält, die helfen möchte und schlimmer macht. Straßengangs. Schulwechsel. Wieder hilflos bemühte bis ignorante Lehrer*innen. Kleinkriminalität. Drogen.
Die Begegnung mit einem Kriminal-Kommissar und mit Break Dance rettet ihn. Der eine schafft offenbar einen Moment tiefer Intensität mit dem Hinweis darauf, was ihm blühe, wenn die Zeit der vergleichsweise milden Jugendstrafen vorbei sei und er Jahre in einer Zelle verbringen werde. Das andere mit einer Idee von Möglichkeiten, wie Leben wütend und zugleich konstruktiv sein könnte.
Eine der eindrücklichsten Szenen diese. Im Tanz führt er Gehen vor. Ein Gehen, das wir kennen aus zahllosen Szenen. Cooles, kerzengerade aufgerichtetes, herausforderndes Stolzieren, das den Weg freiräumt. Er fragt: Wissen Sie, was dieser Gang bedeutet?
Pause. – – Wissen Sie nicht? — Pause –,
Angst! Er bedeutet Angst.

Fast zögernd schleichen wir aus der Vorstellung. Bedanken uns noch einmal bei dem Schlaks.
Und streifen durch die Nachtstraßen an den Schmierereien vorbei, den jungen Männern mit eben diesem Gang ausweichend, mitten durch das Sprachgemisch zuerst aus Türkisch, Arabisch, hier und da noch vielleicht eine asiatisch klingende Sprache, – und je mehr wir uns dem schon weiter gentrifizierten Areal des hipp gewordenen Neukölln nähern, zunehmend Spanisch, Englisch, Französisch.
In dem kleinen Restaurant, in das wir noch auf einen Absacker gehen, und in dem man uns schon kennt von den Tagen vorher: Italienisch.

Am nächsten Morgen gehen wir die Straße von der Apotheke aus aufwärts.
Sehen, Riechen und Hören die Reste der Nacht.
Erleben: Wunden lecken.
Erleben: Einen weiteren Alltag hinkriegen.
Erleben: Lebenswillen.
Inmitten von Graffiti, Schmierereien, wildwüchsig geparkten Autos, zu schnellen Messenger-Dienst-Fahrrad-Hetzer*innen, Sprachgemisch, das sich wieder von Europäisch zu Arabisch verändert, Hoffen auf ein heute besseres Geschäft, …

An der Straße steht in einem kleinen Quadrat tatsächlich noch nicht versiegelter Erde ein junger Straßenbaum wie ein Straßenköter. Ziemlich zerrupft und doch stark, lebenswillig.
Zwischen dem Stützpfeiler, der seinem Wachsen noch hilft, und dem Stamm baumelt, in eine Prospekthülle gesteckt, ein handgemaltes Blatt: „Gieß den Kiez! Auch Stadtbäume brauchen Wasser! Mach mit!“.
Vor dem Quadrat liegt ein Haufen schon groß gewachsenen und dann ausgerupften ‚Un’krauts.
Auf der Erdfläche frischer Müll.
Heute Abend werden wir am anderen Ende wieder den mysteriösen Musiker erleben.
Morgen werden wie immer die 5 Tage wieder viel zu kurz gewesen sein.

Blick auf Landwehrkanal Berlin