Anderland

Lange Zeit nannte ich es das „Land des Vergessens“. Als sie dorthin schon unterwegs war, die Grenze aber noch nicht überschritten hatte, sagte sie manchmal ungewollt sehr poetische Dinge. Sie! Die ich so gar nicht poetisch kenne. Die immer skeptisch, oft genug auch verächtlich auf metaphorische Ausdrucksweise reagierte. Die alles für sie unverständlich Gebildete nicht nur ignorierte, sondern aktiv ablehnte. Die immer wieder betonte, sie sei auch zufrieden gewesen, wenn aus ihren Kindern Handwerker geworden wären. Die sogar die Scherenschnitte, die sie selber mit hoher Kunstfertigkeit schnitt, mit einer spröden Sachlichkeit behandelte, als würde sie nicht sehen wollen, dass ja eigentlich auch sie selbst eine Art Kunst machte. Ihr war wichtiger, dass sie manchmal auf einem Weihnachtsbasar für den einen oder anderen Scherenschnitt einen Euro bekam, und dass ab und zu jemand sagte: Ach, Sie machen so schöne Scherenschnitte. Das zitierte sie dann stolz, machte aber nicht den Eindruck, als würde sie das als Kompliment für ihre Gestaltung verstehen.
Und nun also hatte sie auch ihren Widerwillen gegen die Poesie vergessen und sagte z.B.: „Mensch, Martin, mein Kopf ist wie eine Handtasche. Ich tue irgendwas hinein und dann finde ich es nicht wieder.“
Wenn sie so etwas sagte, war ich gerührt und zugleich ein bisschen beschämt, weil ich mich an etwas freute, was ja ihrem beginnenden Verfall geschuldet war.
Dachte ich damals.
Heute, da sie in inmitten dieses Landes lebt, wo ich sie manchmal besuche, manchmal sogar antreffe, zweifle ich, ob all das die richtigen Worte waren: „Land des Vergessens“, „Verfall“. Ob sie nicht viel zu sehr meinen Blick auf ihre Veränderung ausdrücken. Meine Irritation. Mein „Noch nicht“. Als sie noch in ihrer Handtasche gesucht hat nach ihren Gedanken, da wäre Vergessen vielleicht noch das richtige Wort gewesen. Es gab ja noch Reste des Nicht-Vergessens. Heute aber ist die Transformation abgeschlossen. Die Puppenhülle abgestreift.
Heute lebt sie in Anderland.
Es gibt kein Vorher, kein Nachher, kein Weil, kein Oder, kein Wiespät, kein Deinmeinunser, kein Wenn und kein Aber und schon gar kein Wennaber. Nichts von dem, womit unsereins den lieben langen Tag das Denken und Reden ordnet. Es gibt nur ein Jetzt, – eines aber (da ist es schon wieder), von dem ich so gut wie gar nichts weiß. Dieses Jetzt drückt sie, seltener werdend zwar, aber doch immer noch ab und zu sprechend aus. Manchmal verstehe ich sie. Manchmal nicht. Dieses „Pö!“ zum Beispiel, das sie unverhofft sagt, das mit jungmädchenhafter Stimme am Ende nach oben kiekst, verstehe ich nicht. In meiner Wenndannwelt denke ich bisweilen, es sei ein Ausdruck des Trotzes. Stimmt aber nicht. Sie sagt es auch, wenn sie gerade gar nicht trotzt. Aber vielleicht trotzt sie dann woanders in ihrem Anderland. Also doch Trotz? Irgendein Rest von einem Dasein als Kind? Als junges Mädchen? Oder einfach nur Lust auf diesen Klang? Dieses Modellieren der Stimme? Ich weiß es eben nicht.
Es kann auch ein „P-h-o“ sein, das h deutlich getrennt vom P, das o wie bei oft. Die Stimme tief, wie bei einer, die sich auf den Spaten lehnt nach 3 Stunden Umgraben. Doch auch das ist meine Phantasie. Ich weiß nicht, ob sie damit noch Anstrengung ausdrückt oder Erinnerung an Anstrengung, Anstrengung beim Erinnern, das ins Leere läuft, weil es gar kein Erinnern kennt.
Immer dann bin ich zwar bei ihr, treffe sie aber nicht an.
Manchmal aber treffe ich sie an in Anderland.
Ab und zu fängt sie unverhofft an zu zählen. Auf der Suche nach Kontaktmöglichkeiten zu ihr spreche ich dann mit. Immer Zweiergruppen. Meistens fängt es irgendwo bei 12, 13, 14 an. Dreizehn, Vierzehn. Stimme leicht rauf. Es geht ja gleich weiter. Gibt es also doch ein Nachher? Fünfzehn, Sechzehn, Pause, Siebzehn, Achtzehn, – Verstohlen schaue ich mich um, ob jemand mitbekommt, was wir hier gerade machen. Neunzehn, Zwanzig. Plötzlich schießt sie aus Anderland auf mich. „Warum plapperst du mir eigentlich alles nach?“ Ich möchte sagen „ich plapper doch nicht nach, ich plapper mit“, aber das käme aus einer anderen Zeit. Also schweige ich. Und hör ihr zu. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Mit so einem Klang wie Wohlwollen. Als würde sie dem Jungen zusehen, wie er Erdbeeren ins Körbchen sammelt und ihm mit aufmunterndem Mitzählen helfen wollen.
Auch beim Singen treffe ich sie häufig an, wenn ich sie besuche. Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Bei „Klipp Klapp“ steigt sie oft ein. Oder bei „und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar“. Um Weihnachten herum habe ich sie mal gefragt, ob sie eigentlich auch Weihnachtslieder kenne. Natürlich, sagte sie, mit Entrüstung, wie ich so etwas Dummes fragen konnte. Und fing an. „De-her Mai ist gekommen … „. Das ist auch ein schönes Lied, sagte ich und dann: Ich meinte aber (sic!!) so ein richtiges Weihnachtslied. Kennst Du so eins auch? Ja klar. Jungmädchenhaftes nach oben Kieksen der Stimme. Und als Beweis legte sie los: „De-her Mai ist gekommen … “. Ob es der Gleichklang ist von Weih und Mai? Egal, – ich schmetter mit. Und treffe sie an.
Heute wollte ich den Pflegerinnen beim Füttern helfen. Sie öffnet aber den Mund nicht. Ich versuche es mit allen Tricks. Nichts hilft. Reden nutzt schon mal gar nichts. Mach mal den Mund auf. Hm, das ist lecker. Mit dem Stück Marmeladenbrot auf der Gabel leicht ihre Lippen berühren. Mit dem Stück Marmeladenbrot auf der Gabel in einem etwas größeren Bogen, so, dass sie es sieht, auf ihren Mund zubewegen. Mund aufmachen vormachen. Nichts. Plötzlich sagt sie: Du willst mich bloß reinlegen. Erst will ich protestieren. Nein, nein, ich will Dir doch nur beim Essen helfen. (Ich Gutmensch). Aber dann zögere ich, schweige kurz und sage. Ja! Stimmt! Und lache. Und sie lacht mit. Wir schauen uns an beim Lachen. Wieder hab ich sie kurz angetroffen.
Das Happy End könnte jetzt sein, dass ich ihr das Stück Marmeladenbrot schnell in den Mund schiebe, jetzt, wo sie beim Lachen den Mund auf hat.
Kurzes Zögern beim Verarbeiten dieser Idee. Schon ist der Mund wieder zu. Es war auch keine gute Idee.
Das Happy End: Isst sie eben nicht! Pö!