01. September 2018

(Künzelsau – Düsseldorf – Napoli – Castellammare di Stabia)

Als wir wieder zurück sind von der Beerdigung meines Vaters, schreibe ich nur ein paar Stichworte in mein Logbuch. Die Momente, in denen mein Weinen Anker geworfen hat, auf dass es zurückkehren könne. Und nicht in Vergessenheit gerate.
Da ist ein Pfarrer chinesischer Herkunft. Klein. Mit heller Stimme. Es ist am Anfang schwer ihn zu verstehen. Mein Vater wird zu Grabe getragen. Dies ist seine Messfeier. Und ich verstehe den Pfarrer nicht. Irritation. Dann gewöhne ich mich und verstehe. Und mag sehr, was der Pfarrer sagt. Seine kleine Rede zu Ehren meines Vaters hangelt sich entlang am Text eines Liedes von Martin Gotthard Schneider: Kommt der Tod ins Nachbarhaus. Der Pfarrer spricht überzeugt, leise, hell, wach. Ich fühle den Tod und das Leben meines Vaters wirklich gewürdigt. Das hilft meiner Trauer.
Da ist die Bitte des Pfarrers, jemand möge ihn mitnehmen zum Friedhof. Er würde den Weg nicht kennen. Diese lächelnde Offenheit. So ist das im Leben: Dass man manchmal den Weg nicht kennt. Sogar dann, wenn alle Welt glaubt, man müsste ihn kennen.
Da ist des Pfarrers Wunsch für meinen Vater: Gott möge alle Schuld von ihm nehmen und ihm den Frieden schenken, den die Welt nicht geben kann. „Schuld“, „Frieden“. Diese Worte treffen mich so sehr, dass ich intuitiv weiß: Sie werden mich noch lange weiter begleiten.
Da ist das Klappern der sehr alt gewordenen Tasten der Orgel. Auch eine Art Arthrose. Das Klappern, das dem traurig schönen Choralvorspiel „Jesus bleibet meine Freude“ die Schönheit des Alterns beifügt.

Da ist die Vase unter seinem Zuhause im Columbarium. Da hinein schiebt eine jede und ein jeder eine weiße Rose in ein schönes ovales Gefäß aus silbrigem Metall.
Da ist das Gefühl von Einsamkeit inmitten eines Gebildes, das wir Familie nennen. Das mehr Wunsch ist als gelebte Wirklichkeit. Das jetzt in den vier Wochen, in denen es galt, Gerd und seine Frau auf diesem letzten Weg zu begleiten, in einem Maß gelebte Wirklichkeit war, wie man es sich kaum hätte vorstellen können. Mit einer Innigkeit und einer Wärme, die die Sehnsucht, es möge öfter so sein, noch vergrößert hat. Wie schön, dass es bei uns allen zumindest diese Sehnsucht gibt. Aus ihr kann etwas wachsen.
Auf dem Rückweg in unsere Reise sind wir zum Glück nicht allein. Tochter Katharina und ihr Bald-auch-offiziell-Mann begleiten uns. Wir alle sind ernst, geschäftig, vorfreudig.
Ich bin auch skeptisch. Wo wir die beiden jetzt hinbringen- die città von der traurigen Gestalt, – das ist nicht gerade das klassische Yacht-Urlaubs-Paradies. Im Gegenteil.
Und hat doch Charme. Wir haben ein Restaurant ausgesucht in der Nähe, wo wir am Abend essen wollen. Es hat Tische malerisch zwischen dem alten Gebäude und der Basilika. Als wir Platz nehmen, müssen Ulrike und ich lachen. Wir bekommen eine Speisekarte gereicht, die wir kennen. 3 Tage zuvor hatten wir dieselbe. Nur nicht hier, sondern in einem sehr einfachen Laden. Papiertischdecken, Plastikbecher. Klamotten auf’n Tisch. Mampfen. Fertig. Die Karte ist ein schon angegilbtes Din-A4-Blatt, doppelseitig bedruckt, in eine Prospekthülle geschoben, die Hitze und Dauergebrauch schon so labbrig gemacht haben, dass man ihr den Schutz, den sie bieten soll, nicht mehr abnimmt.
Hier ist alles edler, langsamer, gediegener. Aber das Essen offenbar dasselbe. Wir sind gespannt. Der Kellner hat eine ähnliche Ausstrahlung wie Salvatore, der uns auf dem Steg empfangen hat. Und er hat Ähnlichkeit mit Harry Dean Stanton, dem männlichen Hauptdarsteller in Paris, Texas. Beides Figuren von der traurigen Gestalt.
Wir haben gerade bestellt, da kündigt sich Unheil an. Blitze. Donner. Windstöße. Als es anfängt zu regnen, ziehen wir hastig um ins Innere. Kurz danach tobt draußen schon ein Wolkenbruch. Der Kellner beruhigt uns. Das ist schnell vorbei. Das dauert höchstens cinque minuti.
Der Liebsten fällt ein, dass die Deckenklappe in der Bugkabine ja undicht ist und sie darunter noch ihr I-Pad liegen hat. Manchmal bin ich edler Ritter und biete an zu gehen. Ich frage die Restaurant-Chefin, ob sie vielleicht einen Schirm habe. Ja, ja, sogar einen schönen großen. Im Auto. Da unten. Schon zwirpt sie das Gefährt mit der Fernbedienung auf, sicher im Trockenen stehend. Als ich das Auto durch den knöchelhohen Sturzbach, der inzwischen den Durchgang zwischen Haus und Basilika hinabschießt, und durch 10 Meter schirmloses offenes Gelände erreicht habe, bin ich schon klatschnass. Erst recht, als ich mit dem Riesending von Schirm an dem Durchgang zu unserem Steg hängenbleibe. Die undichte Bugklappe schickt tatsächlich Nässe aufs Bett und auf das i-Pad. Ich kann ein bisschen sichern. So hat es sich wenigstens gelohnt. Wieder zurück, kommt der zweite Gang. Es schüttet immer noch. Erst nach dem Dessert hört es auf. Ich sage zum Kellner, das seien aber lange 5 Minuten gewesen. Wir lachen alle mit Lust. Inzwischen sind wir mit diesem Ort tatsächlich irgendwie befreundet.
Noch bleiben wir, denn wir wollen morgen von hier aus Pompeji besuchen. Das war eine unserer ganz wenigen absoluten Festlegungen vor unserer Reise. Hier wollten wir unbedingt hin. Und von hier, von Castellammare aus sind es nur 2 Stationen mit dem Zug. Sagt Gianlucca. Es sind aber italienische 2 Stationen. Das heißt: in Wahrheit 5.