04. Oktober 2018

(Rückblick auf Messina und Milazzo)

Ich träume von einem neuen Postkarten-Format.
„Living Postcards“.
Wir hätten welche verschickt aus Messina und Milazzo.
„From Real Life With Love“

Living Postcards aus Messina:

Segelboot als AufzählungszeichenStraßenbahn

Die Liebste und ich steigen ohne groß zu überlegen direkt am Hafen in eine Straßenbahn. Wir wollen einfach bis zur Endstation fahren und gucken. Eine Zeitlang fahren wir am großen Haupt-Hafen entlang. Rechts von uns große, andeutungsweise herrschaftlich aussehende Gebäude. Sehr schön restauriert. Links von uns noch deutlich höhere Fassaden, die alles überragen. Die Fassaden von Kreuzfahrtschiffen. Flach gelegte Hochhäuser. Vor den Fenstern Balkons mit schicken Liegestühlen. Schwarze Großraum-Taxis mit abgedunkelten Scheiben, frisch geputzte vollklimatisierte Groß- und Kleinbusse auf der Pier. Bedienstete, die vor und unter der Gangway wimmeln. Offenbar bricht man gleich auf zu einigen Landausflügen. Wir fantasieren. Die Outdoor-Aktivisten lassen sich zum Ätna fahren und brettern dort mit martialischen Allrad-Monstern rauf zum Gipfel. Die klassischen Stadt-Besichtiger*Innen begeben sich zur Stadt-Rundfahrt in einem dieser roten Mini-Lokomotiven-Züge mit anschließendem Kaffee in der schönsten Pasticceria der Stadt. Vielleicht kann man auch zu einer Partie Golf aufbrechen. Oder zu einer Tour im Kleinbus zu einem schönen Strand etwas außerhalb. Cocktail inclusive. Während wir das fantasieren, wirkt die Umgebung der Straßenbahn allmählich immer weniger aufpoliert und besichtigungstauglich. Ganz langsam bewegen wir uns vom Fruchtfleisch zur Schale. Sie ist hier und da ein wenig angedötscht, aufgeplatzt, verschorft. Ein nicht sehr großer, schlanker, sehr dunkler Sizilianer steigt ein. Er meckert vor sich hin. Sucht immer wieder Blickkontakt zu einem Afrikaner, der uns gegenüber auf der Bank sitzt. Wir verstehen nicht, was der Sizilianer sagt, aber wir verstehen, es geht um Provokation. Der Afrikaner ist sehr verunsichert. Er schaut weg, dann wieder hin, dann wieder weg. Sein Blick ist flüchtig, flatternd. Die Menschen um uns herum sind genervt von dem Geschimpfe. Aber sie steigen nicht ein in das angebotene Kämpfen. Sie suchen nur den Blickkontakt mit dem Afrikaner. Versuchen ihm Beistand zu signalisieren. Versuchen ihm mit Augenbrauen, Haltungen, angedeuteten Handbewegungen zu signalisieren: Hör nicht auf das Gemecker! Lass Dich nicht verrückt machen! Der spinnt!
Als der Sizilianer aussteigt, lässt er noch ein paar Sprüche da. Dann schließt sich zischend die Tür und die Körper und Gesichter entspannen sich. Der Afrikaner nicht. Er schaut auf den Boden vor sich.
Endstation im grauen Alltag in Messina. Auch wir steigen aus. Stromern herum.

Segelboot als Aufzählungszeichen Friseurin

Die Liebste hat beim Abendspaziergang einen Frisiersalon entdeckt und die spontane Idee, sich hier morgen frisieren zu lassen. Sie geht hinein um einen Termin zu machen. Kommt wieder zurück und berichtet, sie brauche keinen. Sie solle einfach morgen früh kommen.
Das tut sie. Und lernt Elena kennen. Elena schneidet ihr kunstvoll die Haare. Mit einem Messer. Und plaudert. Dabei klärt Elena die Liebste über wichtige grundsätzliche Dinge auf. Zum Beispiel darüber, dass Deutschland ein wirklich schönes Land sei. Sie sei einmal da gewesen. Wirklich sehr schön. Nur: Im Kaffee sei zu viel Wasser. Wie übrigens auch im Flugzeug und in Mailand.

Segelboot als AufzählungszeichenLa Modonnina del Porto

Im Yachthafen fragen wir einen Mann, der an seinem Schiff hantiert, wie wir zur Madonna della Lettera kommen, der Statue, die uns jedes Mal aufgefallen ist, wenn wir die Hafeneinfahrt von Messina passiert haben. Er lacht. Was wir da wollten. Wir antworten, dass wir sie uns einfach ansehen wollen. Er lacht wieder. Das machen Sie am besten von hier. Er zeigt auf den Boden. Und erklärt weiter, dass man dort nicht hinkönne. Dort sei abgesperrtes Militärgelände. Erst recht könne man nicht rauf. Man sehe sie tatsächlich am besten von hier.

Segelboot als Aufzählungszeichen Sacrario di Cristo re

Ein Gebäude ist uns bei der Ansteuerung von Messina aufgefallen. Eine Kuppel, die alle anderen Gebäude überragt. Dort kraxeln wir hin.
Es ist das Sacrario di Cristo Re. Mitten auf dem Stufenaufgang stehen zwei Tische. Einige Menschen drum herum. Eine Initiative, die sich um den Erhalt, die Pflege und die „Bewirtschaftung“ historisch bedeutsamer Stätten in Sizilien kümmert, bietet hier eine Führung an. Wir buchen. Ein junger Mann in Schwarz gekleidet begleitet uns. Sehr freundlich, sehr engagiert und sehr eloquent erklärt er uns alles, was zu diesem Heiligtum zu sagen ist. Er scheint selbst bewegt von dem, was er uns hier zeigt. Besonders von der Glocke, die aus eingeschmolzenen Kanonen gegossen wurde.
Wir mögen einander. Wir fragen ihn, wie es kommt, dass er so gut Englisch kann. Er erklärt ganz selbstverständlich, die wichtigsten Basics habe er in der Schule gelernt. So 20%.
Den Rest beim Online-Spielen und überhaupt bei Computer-Spielen.
Er lässt sich gerne mit der Liebsten fotografieren vor der Glocke aus Kanonen-Stahl. Beide lächeln. Das Foto allerdings existiert nur in unserer Erinnerung. Ich hatte in dieser Zeit keine Karte in der Kamera.

Segelboot als Aufzählungszeichen Via XXIV Maggio

Auf dem Rückweg vom Sacrario di Cristo Re kommen wir in einem normalen Wohnviertel an einer Bar vorbei und haben gleichzeitig den Impuls, hier bei einem Aperitif ein wenig auszuruhen. Beim Betreten der Bar stolpere ich und falle auf die Treppe. Ich kann mich beim Fallen nicht abfangen, denn ich habe den Fotoapparat in der Hand. Sofort springt der junge Mann am Tisch nebenan auf. Die Kellnerin eilt herbei. Ebenso der Besitzer. Alle möchten gerne helfen. Erkundigen sich immer wieder, ob wirklich alles in Ordnung sei. Ich würde ihnen gerne sagen, dass mir nichts passiert sei, dass mir nur das Knie wehtut, und dass das morgen bestimmt ein bisschen dick ist. Aber dazu kann ich zu wenig Italienisch. Also: „Tutto a posto, grazie.“
Wir sind jetzt nicht nur Gäste. Wir sind jetzt Menschen, um die man sich kümmert.
Beim Bezahlen fragt die Liebste die Kellnerin, was es mit dem Namen des Cafès auf sich hat. „XXIV Maggio“. „Ganz einfach, das ist der Name der Straße hier.“ Wir schauen auf die Wand draußen gegenüber.
Am Abend versuchen wir herauszufinden, was es mit diesem Tag in Messina auf sich hat. Wir lernen alle möglichen interessanten geschichtlichen Dinge. Aber erst spät wird klar: Der 24. Mai ist der Tag, an dem Italien in den ersten Weltkrieg eingetreten ist. Gegenleistung der alliierten Staaten gegen Österreich-Ungarn und Deutschland unter anderem: Südtirol.

Segelboot als Aufzählungszeichen Kellnerin

Unser langes Gespräch über meine Angst bei der Überfahrt von Reggio di Calabria nach Messina endet mit Bezahlen an der Theke. Eine ziemlich divenhafte Frau hinter der Kasse fragt mich, wann wir wieder fahren. Ich stutze. Hab ich das jetzt richtig verstanden? Was meint sie? Sie legt nach: Sie sind doch mit dem Schiff hier? Ich bin platt. Woher weiß diese Frau, dass wir mit einer Segelyacht im Porto Nettuno liegen. Ich antworte so wahrheitsgemäß wie verdattert, dass wir noch nicht wissen, wann wir wieder auslaufen. Sie wendet sich ab. Sie hat keine Lust, sich weiter mit diesem stotternden Nicht-Wisser zu beschäftigen.
Erst draußen wird mir klar: Wir sind hier in der Nah-Schiff-Bewegungszone von Kreuzfahrtschiff-Passagieren. Die Lady wollte einfach nur wissen, ob heute Abend noch mit zusätzlichen Einnahmen zu rechnen ist.