3 Wochen sturmfreie Bude. Die Alten nicht da.
Aus dem Mauerblümchen ist eine veritable Mauerblume geworden.

 

Das Model und das Mauerblümchen

Diese Farben! Genau diese Mischungen aus milden und doch leuchtenden Gelb- und Rottönen, wie sie in dieser Saison angesagt waren. Der Stoff an den Blüten luftig fließend und in sanften kleinen Rundbögen aufgefächert. Chic und verspielt zugleich. Beides in genau der richtigen Dosis. Und diese Haltung! Kerzengerade aufgerichtet mit einem Hauch von Drehung. Wie Skulpturen und doch alles andere als verkrampft. Die Köpfe geradezu kokett leicht geneigt. Das ganze Bild selbstbewusst zurückhaltender Chic!
Ach! Wie oft hatte das kleine Mauerblümchen ihre Nachbarin angeschwärmt. Heimlich zuerst und verschämt. Und zugleich sehnsüchtig. Wie gerne würde sie diese wundervolle Schönheit ihre Freundin genannt haben.
Aber einfach sich ein Herz fassen und Kontakt aufnehmen? Niemals. Die würde sich nie mit ihr einlassen. Doch nicht mit einem so unscheinbaren Gewächs wie ihr!
Immer wieder schaute sie hinauf. Träumte. Und zog sich voller unerfüllter Sehnsucht wieder zurück.
Doch eines Tages sah sie, dass die Köpfe dieser Schönheit sich ganz leicht nach unten geneigt hatten. Ob das Model vielleicht doch nicht so unnahbar war, wie sie gedacht hatte? Galt die Kopfneigung womöglich gar ihr? Und war da nicht der Hauch von einem Lächeln? Einem echten. Nicht diesem künstlichen falschen Laufsteg-Lächeln.
Und dann traute sie sich doch. Sie sprach die Schönheit an. Aufgeregt fiebrig hoffend. Keine Reaktion. Traurig zog sie sich wieder zurück.
Aber der Bann war gebrochen. Als hätte das Ausbleiben einer schroffen Abweisung ihr zumindest den kleinen Mut gelassen, es immer wieder zu versuchen, auch wenn die Antwort Schweigen blieb.
Der Sommer war schon reif. Sie selbst war ein gutes Stück gewachsen. Mit jedem Millimeter diesen Blüten ein bisschen näher. Der Versuch, die Schöne anzusprechen, war schon fast zu einer täglichen Routine geworden. Kaum rechnete sie noch je mit einer Reaktion.
Und dann geschah es. Erst hörte sie nur ein schwaches Wispern, das ihr erst so vorkam, als würde sich eine Biene nähern. Natürlich würde die zuerst in ihrer Nachbarin nach Nahrung suchen. Aber keine Biene kam. Das Wispern blieb. Sie reckte sich so gut es ging zu dem leisen Tönen hin. Und, – ja! Ganz deutlich hörte sie es: „Hast Du was gesagt?“ Eindeutig! Ihre schöne Nachbarin hatte geantwortet. „Ja! Ja. Eh. Ja“ Mehr brachte sie nicht zustande. Vor lauter angestrengten Versuchen, Kontakt zu bekommen, hatte sie sich nie gefragt, was sie denn dann sagen sollte, wenn die Schöne doch …
„Ich, – also ehm, ich …“, stotterte sie.
„Kannst Du etwas lauter sprechen? Weißt du, ich bin ganz schlimm schwerhörig. Das war ich schon immer.“
Beinah schämte sich das Mauerblümchen dafür, dass sie geglaubt hatte, ihre Nachbarin wäre zu stolz sich ihr zuzuwenden. Die Schöne hatte sie nicht gehört. So einfach war das! Sie hob die Stimme. „Also…, ja, ich versuch`s. Ich hab dich schon ganz oft angesprochen. Ich hatte schon Angst, ich würde dich nerven.“ „Nein, ganz und gar nicht.“ Am liebsten wäre das Mauerblümchen noch ein bisschen schneller gewachsen, um besser verstehen zu können. Aber irgendwie ging es auch so. Sie redeten. Und schwiegen. Und selbst das Schweigen redete.  Und während des Redens merkten sie, dass ihre Freundschaft schon vor dem Reden begonnen hatte. Beide gestanden einander kichernd, dass sie sich glühend beneideten. Die eine die andere wegen ihrer erhabenen Schönheit und der pflegenden Liebe, die ihr von den Besitzern des Hauses zuteilwurde. Die Andere die Eine, weil sie so gut hören konnte, weil sie den Mut hatte einfach zu wachsen, wo sie nicht hingehörte. Die Schöne erzählte sogar, dass sie oft genug Angst gehabt hätte, wenn die Terrassentür aufging, dass jetzt der Moment gekommen wäre, wo das Mauerblümchen herausgerissen würde. Und dann wäre sie wieder allein gewesen. Und jedes Mal hätte sie erleichtert aufgeatmet, wenn es wieder einmal ausgeblieben war. Sie erzählte dem Mauerblümchen auch, wie sehr sie es beneidete, weil das Mauerblümchen sich selbst aussäen konnte, sie aber nicht.
Und dass sich ihre Sorge um das Mauerblümchen ein wenig verflüchtigt hätte, weil die Hausbesitzer jetzt schon seit 2 Wochen nicht mehr herausgekommen waren.
Eine selige Zeit hatte begonnen. Klar, sie hätten sich wünschen können, dass sie niemals enden würde, aber dazu wussten sie zu genau, dass das nicht so sein könnte. Dass die Sehnsucht danach sie nur daran gehindert hätte, ihre Freundschaft zu genießen.
Heute Nacht, so hatten sie verabredet, wollten sie länger wach bleiben. Der Himmel war klar. Es war Vollmond. Er würde hell und freundlich zu ihnen hinablächeln. Das wollten sie sich zusammen ansehen.
Und so kam es. Sie standen da. Die Luft zwischen ihnen war gesättigt von ihrer Freundschaft. Der Mond schien hell zu kichern. Es war wie im Märchen. Sie sagten nichts. Sie wussten ja, dass Worte eben manchmal einfach stören, besonders, wenn einer schwerhörig ist.