Zu doof?
Zu schlampig?
Zu faul?

Leere Flaschen neben Altglascontainer

Oder war alles ganz anders?

mietz … mietz … mietz

In der üblichen Teambesprechung zum Wochenabschluss hatten sie auch über Frau Helger gesprochen. Alle waren sich einig, dass ihre Demenz sich beschleunigte. Die Pflegekräfte, die sie regelmäßig besuchten, hatten beobachtet, dass ihr Zimmer zunehmend verwahrloste. Das war an sich noch kein Problem. Allerdings ließ der Geruch darauf schließen, dass hier und da auch verderbende Lebensmittel an versteckten Stellen lagen. Aber wie sollte man die beseitigen, ohne Fau Helger zu beschämen? Man konnte ja schlecht zu ihr gehen und sagen: „Frau Helger, in ihrem Zimmer stinkt’s. Hier muss mal Ordnung gemacht werden.“ Das wollte man ihr nun wirklich nicht antun, denn Frau Helger war Zeit ihres Lebens immer eine sehr ordentliche Frau gewesen, die ihren Haushalt geradezu vorbildlich in Schuss gehabt hatte. Sie wäre zurecht entsetzt über ein solches Ansinnen. Aber alles so lassen? Man einigte sich auf einen Trick. Timo, der FSJler, mit dem sie sich besonders gut verstand, sollte zu ihr gehen und ihr sagen: „Frau Helger, das Altglas wird heute umsonst abgeholt. Haben sie noch leere Flaschen? Dann würde ich sie rasch nach runterbringen. Oder wollen Sie das selbst erledigen?“ Natürlich würde sie das wollen. Sie war doch eine reinliche Frau.

Und tatsächlich. „Ach lassen Sie mal. Sie haben genug andere Dinge zu tun. Ich mach das rasch selber. Gegenüber ist doch ein Altglasbehälter.“ Sofort stand sie auf und griff sich zwei Plastiktüten mit leeren Flaschen. Die Rotweinflasche, die oben als erste aus dem Beutel lugte, schaute sie sich ganz versonnen noch einmal genauer an. Die war erst vor ein paar Tagen leer geworden. Ihr Sohn hatte immer ein Gläschen getrunken, wenn er bei ihr war. Letztes Mal auch. Wann war das noch gleich? Hatten sie an dem Tag nicht diesen Spaziergang gemacht, bei dem sie die Frau aus dem Zimmer nebenan getroffen hatten? Die hatte irgendwas erzählt und sie hatten alle drei so gelacht. Was war das nochmal? Als Timo anbot, die Flaschen doch rasch runterzubringen, tauchte sie wieder auf. „Nein, nein, ich geh schon.“ Sie stopfte die Flasche zurück in die Tüte. Das Senfglas, das sie weiter unten in der Tüte sah, war das überhaupt leer? Sie kramte, um es aus der Tüte zu angeln. Ihr Rücken meldete sich wieder. Sich bücken tat manchmal doch weh. Sie richtete sich wieder auf und streckte sich. Besser. „Soll ich mitkommen?“, fragte Timo. „Wohin?“ „Sie wollten doch das Altglas wegbringen.“ „Ach so, ja, nein, nein, geht schon.“ Sie griff sich die Tüten und schlurfte raus. Schon vom Eingang aus sah sie den Container und ging zielstrebig darauf zu. Ein schönes Gefühl Ordnung zu machen. Am Container angekommen, stellte sie die Tüten ab und lehnte sie seitlich an den weißen Klotz mit den drei Löchern. Sie wollte nicht, dass sie umkippten und dann die peinlichen leeren Flaschen auf den Weg rollten. Gerade wollte sie die erste Flasche herausholen, da hörte sie ein Auto auf den Parkplatz des Altenheims fahren. Sie schaute hin. Ob das ihr Sohn war? Aufgeschreckt von dem Geräusch huschte eine Katze weg, die sich gerade noch auf dem warmen Pflaster den Bauch gewärmt hatte. Frau Helger lächelte. Das war Mietzi. Die Katze von Frau Reiners. Die kam immer sofort zu ihr, wenn sie die Hand ausstreckte und strich ihr um die Beine. Auf der Bank vor dem Eingang sprang Mietzi ihr manchmal auf den Schoß und ließ sich streicheln. War die Bank noch frei? Ja. Und es stand sogar die Sonne darauf. Mal sehen, ob es ihr wieder gelingen würde, Mietzi zu locken. Sie stapfte in Richtung Bank. Mietzi lag ein paar Meter weiter auf einem anderen gepflasterten Sonnenfleck. Frau Helger setzte sich auf die Bank und streckte die Hand aus.
„Frau Helger, ist Ihnen nicht kalt?“ Susanne stand vor ihr und schaute besorgt. Ja, ihr war kalt. War nicht gerade noch die Sonne …? „Kommen Sie, wir gehen rein. Es wird langsam zu kühl hier draußen.“ Susanne bot ihr den Arm. Frau Helger hakte sich ein. „In ihr Zimmer?“, fragte Susanne. Als Frau Helger ihre Couch sah, atmete sie genüsslich aus. Jetzt erstmal ein bisschen ausruhen. Sie freute sich. Es roch angenehm frisch in ihrem Zimmer. Wie immer.