Oft schwappen Träume aus der Schlafesdämmerung in den Tag hinein. Traum und wach züngeln ineinander. Erlebtes Leid, das ich mühsam verdünne, bis die Realität dann doch wieder sichtbar wird.
Ich bin verabredet. In einer Siedlung, die ich aus anderen Träumen schon kenne. Eine Trabantensiedlung. Unübersichtliche Anlage. Viele Wohnungen, Aufgänge, Eingänge. Mit dem Lineal gezogene gepflasterte Wege, aufgestapelte Wohnblöcke. Eine Mischung aus rotem Backstein und Beton. Ich weiß im Traum: Vor längerer Zeit hab ich schon einmal hier gelebt.
Treffen wollen wir uns in einer Art Einkaufszentrum, das aber grau und leer ist. Es ist noch in Betrieb und zugleich verlassen. Ich gehe eine dunkle Betontreppe hoch, in einem Flur um eine Ecke und um noch eine Ecke. Ich zweifle schon, ob ich richtig bin, – da kommt er mir entgegen. Ich kenne ihn gut, aber ich weiß nicht, wer das ist. Er ist eine Mischung aus mehreren verschiedenen Personen. Er muss noch etwas erledigen. Wir verabreden, dass wir uns in ein Café setzen. Ich solle schon einmal vorgehen, er komme dann nach ins Café „Mairon“. In der nächsten Szene gehe ich einen breiten gepflasterten Weg entlang. Es ist noch stockdunkel, aber Morgen. Links lauter Cafés. Auch hier alles eher grau und unwirtlich. Die Cafés schmucklos und wenig einladend, aber etwas belebt. Das verabredete Café ist irgendwo noch ein Stück weiter. Ich weiß das, weiß aber nicht woher. Ich setzte mich in eines der Cafés am Weg vorher. Im Traum denke ich, dass der, mit dem ich verabredet bin, auf dem Weg zum „Mairon“ ja hier vorbeimuss, ich ihn also nicht verpasse.
Heraus aus dem Einkaufszentrum sehe ich einen offenen Betonwürfel, vielleicht 5 x 6 Meter, der Rand etwa 1 Meter breit. Darin eine leicht schräg abwärts laufende Ebene, gepflastert. In der Mitte steht, seltsam erhellt (die Sonne? Künstliche Beleuchtung?) ein antik anmutendes säulenartiges Relikt, beige, verwittert. Beim Wegdrehen von dieser „Skulptur“ rege ich mich über diese albern protzige und zugleich phantasielose Inszenierung auf. Ich benutze diese Worte, spreche, aber zu wem?, und verstumme dann.
Draußen. Es ist dunkel. Nur ein kleiner Teil der Tische steht in der Sonne. Dieser Teil der Tische verlockt, aber ich setze mich trotzdem ins Dunkle. Warum? Wurde mir der Platz zugewiesen? Tische und Stühle sind sehr klein, fast wie Kindermobiliar. Ein südländischer Kellner beugt sich, ein billiges rundes, in verblassten Farben mit Werbelogos bedrucktes Plastik-Tablett balancierend, zu mir herab.
In der nächsten Szene ist meine Verabredung nicht gekommen. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht im vereinbarten Café sitze. Ich denke im Traum, dass ich das kenne, – in irgendwelchen Versäumnissen herumzuirren und zu versuchen, wieder gutzumachen, auszubügeln. Ich beschließe ins „Mairon“ zu gehen. Bestimmt sitzt er da.
Er sitzt da nicht. Ich weiß es, obwohl ich nicht nachschaue. Mitten in unruhigem Hin- und Herdenken – zurückgehen in dieses Treppenhaus? … Hierbleiben? …Ist die Sache eh gelaufen? … Hättest du bloß! … – befinde ich mich wieder woanders.
Wieder ein Weg. Wieder ist er gerade und gepflastert. Doch jetzt ist links Grün, rechts ist ein stählerner runder Handlauf, der schon etwas angelaufen ist. Im nächsten Moment habe ich zwei helle, ehemals bunte, jetzt verblasste Damenschirme mit gekrümmten Griffen in der Hand, – einer aus Holz, einer aus dünnem Plastik. Ein fröhlich angepunktes Mädchen mit auffällig gefärbten Haaren und Piercing links an der Unterlippe lacht. An dem Handlauf hängen jetzt lauter Schirme, wie auf einem Flohmarkt. Die Schirme sind Teil einer Altkleiderbörse. Ich weiß das, obwohl nur diese Schirme da sind.
Ich schäme mich vor dem Mädchen. Denkt sie, ich wollte die Schirme klauen? Ich sage irgendwas Erklärendes, komme aber nicht bei ihr an. Sie kichert wieder. Ich weiß aber nicht, ob über mich.
Jetzt habe ich auch noch meinen eigenen kurzen, dunkelgrauen Herrenschirm mit gekrümmtem braunem Holz-Griff in der Hand. Was denkt sie denn jetzt, wenn ich die Damenschirme zurückhänge, aber meinen eigenen in der Hand behalte, von dem sie ja nicht weiß, dass es meiner ist? Die Situation ist mir höchst unangenehm. Ich bin auf bedrückende Art allein mit meinem Problem.
Wieder wechselt die Szene.
Ich erschrecke. Plötzlich wird mir klar, dass heute Donnerstag ist. Ich hätte um 8:00 bei der Arbeit sein müssen. Bisher war ich davon ausgegangen, ich hätte frei. Wie spät ist es? Hektik und Druck kommen auf. Blick auf meine Armbanduhr. 8:10. Geht sie überhaupt? Steht sie noch auf Winterzeit? Dann wäre es jetzt 9:10. Beides wäre noch so gerade vertretbar. Aber bis ich das Auto gefunden habe … – wo ist es überhaupt? Wie lange brauche ich, wenn ich mich total beeile? Es wird sehr viel zu spät sein. Kann ich das irgendwie erklären? Entschuldigen? Die Lage gerät zunehmend aus den Fugen. Wieder denke ich über meine Uhr nach. Ist es 8:10? Ich frage einen Mann, der vorbeikommt. Seriöse Erscheinung. Anzug, elegante Aktentasche. Er schaut auf die Uhr. Es ist 10 nach 1. Schock. Tatsächlich ist es jetzt Mittag. Ich schaue auf und merke es. Bis jetzt hatte ich es gar nicht gemerkt. Unruhe an der Grenze zur Panik. Ich bin verloren, habe verloren. Trotzdem panisches Gedankenhetzen, wie ich das wieder hinbiegen könnte. Schmerzhaftes Grübelbrausen.
Nicht mehr schlafend und noch nicht wach dämmert mir langsam, dass die Lage doch nicht so schlimm ist.
Ganz langsam, wie durch einen halb verstopften Abfluss fließt eine giftige, zähflüssige Traum-Gedanken-Brühe ab.
Es ist tatsächlich Donnerstag.
Ich muss nicht zur Arbeit.
Ich habe Zeit.
Nur ein Traum.
Dessen Bedrückheit mich durch den Vormittag begleitet.
Als wäre ich nochmal davongekommen.
Diesmal …