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Polit-Nostalgie

Jetzt ist es passiert. Ich werde nostalgisch und trauere den guten alten Zeiten hinterher. Früher, – ja, da wurde man noch mit wirklich poetischen Klischees im Fernsehen verarscht! Früher, – da gab es noch andere Feindbilder als den Taliban, z.B. den KGB oder den bösen Bonzen oder Heino.
Und in diesem Früher wäre die Freilassung von Михаил Борисович Ходорковский, zu Deutsch Michail Borissowitsch Chodorkowski, ein viel schöneres Spektakel gewesen: Verwackelte – offensichtlich heimlich gefilmte – Aufnahme eines Gefängnisses. Dunkler Himmel. Schnee. Tief vermummte Passanten. Man spürt, es ist steinkalt. Kommunistisch kalt. Das Gefängnis steht mächtig und finster und stalinistisch da. Dann öffnet sich knarzend zögerlich das große, graue Stahltor. Ein Mann tritt heraus. Unsicherer Schritt. Sofort ist klar: Hier ist ein Mann, der jahrelang gelitten hat, vielleicht sogar gefoltert wurde. Der Körper schwer geschwächt, aber das Herz ungebrochen. Ein Arm wirft ihm einen zerschlissenen Seesack hinterher. Eine kleine Gruppe läuft freudig rufend auf ihn zu. Der Gefangene beugt sich zuerst herunter zu einer alten Frau im Rollstuhl. Das ist bestimmt seine Mutter, denkt man, die ist ja schwerkrank. Dann sein Vater. Würdevoll und stolz klopft man sich auf die Schulterblätter. Schneeflocken stieben auf. Schließlich der Bruder. Er nestelt eine Wodkaflasche aus der Manteltaschengrube. So schwer haben es diese Menschen und doch sind sie so – hach – freiheitsliebend und menschlich!
Plötzlich schaut einer aus der Gruppe in Richtung Kamera. Aufgeregte Rufe. Arme rudern. Finger zeigen. Gesichter schimpfen wütend. Steine werden aufgehoben, in Richtung Kamera geworfen. Das Bild wackelt, bricht ab.

Karl-Heinz Köpcke erklärt, dass man die Bilder auf abenteuerliche Weise aus einer geheimen Quelle im KGB erhalten habe. So schön, schön war die Zeit …

Wie fade ist es heute!! – O.k. – es ist schon gut gemacht. Klaus, der Alles-Kleber klettert auf den News-Gipfel. Und schaut von dort auf das Treiben der Menschen hernieder. Schon das „Gottennabent“ ist wirklich gekonnt. Vielleicht klingt es noch ein bisschen zu ‚geübt’. Dann eine kurze, knackige Kennzeichnung dessen, was Putin da gemacht hat. Klaus durchschaut ihn. Dem macht keiner was vor. Nicht mal Putin, der gewiefte Taktiker. Der jetzt – ausgerechnet jetzt! – Chodorkowski begnadigt. Der muss doch was im Schilde führen. Natürlich. Er will vor den olympischen Winterspielen sein Image aufpolieren, damit die Spiele … eh … na ja, also … Jedenfalls war das Taktik. Zum Glück haben wir Kleber. Putin habe es für „zweckmäßig“ gehalten, der Welt ein „friedfertiges, ausgleichendes Gesicht“ zu zeigen, kurz vor den olympischen Winterspielen, die „teuer bezahlt“ gewesen seien. Dreimal durchschaut von Kleber – in einem Satz: Putin verfolgt nur einen Zweck, er ist nicht wirklich gnädig beim Begnadigen. Das Friedfertige ist nur eine Maske, ein Gesicht, keine Haltung. Die Winterspiele waren teuer bezahlt.
Infotainment at it’s best! Und dann ein Bild-Bericht. Der beginnt mit einem Fenster. Und einer Stimme: „Nach 10 Jahren Gefangenenlager ein Bett im Adlon.“
Hallo?! Im Adlon! Kein bisschen Begnadigungs-Romantik. Kein bisschen “armer Kerl!” Stattdessen ein kleiner Privatjet, ein Konvoi mit schwarzen Limousinen. Sprecher: „Noch während der Fahrt führt der Ex-Häftling die ersten Telefonate.“ Womöglich mit einer Bank in Zürich. Gut, der Mann braucht ja jetzt einiges. Dann Genscher: „Er ist hierher geflogen worden. Wir haben ihm eine Maschine geschickt.“ Genscher, nicht irgendein zerquältes Gesicht von Amnesty-International, ein Polit-Abenteurer, der den Häftling in einem klapprigen Jeep illegal in einer 5-Tage-Marathon-Autofahrt eigenhändig aus Sibirien nach Berlin gebracht hat, – nein Genscher.
Das wirkt alles so – staatsmännisch. So geordnet. So gar nicht knastisch. War der überhaupt gefangen? Ich meine, so richtig? Mit in einen Eimer pissen und aus dem Inhalt zerschlissener Matratzen Zigaretten drehen?
Der Beitrag endet wieder mit Bildern vom Adlon und dem Hinweis, dass Chodorkowski so ganz frei denn doch noch nicht sei. Immerhin würden vor dem Hotel Dutzende von Fotographen, Kameraleuten und Journalisten warten. „Es dürfte der schönste Arrest seines Lebens sein.“ Selbst der Sprecher in dem Filmbeitrag klebert.

Jetzt mal ehrlich, Leute … der war gar nicht im Knast. „Wir haben ihm ein Flugzeug geschickt“, sagt Genscher. Das hört sich doch schwer nach einem Akt von Hoenessology, von Wulferism, von Ackermannation an, – oder wie soll man das nennen, wenn das System der prominenten „Beziehungen-Haber“, „Netzwerke-Knüpfer“, „Telefonierer“, „Flugzeug-Besitzer“, „Landeerlaubnis-Krieger“, „Hubschrauber-Besitzer“ – was war da in all den Beiträgen noch alles zu sehen aus dieser Luxus-Befreiung? – wenn also diese Welt einem unbedarften Heute-Jounal-Gucker wie mir einen Luxus-Häftling vor die Augen spuckt und mir weismachen will, da ginge es um Freiheit und Zivilgesellschaft.
Wer ist „wir“ in „Wir haben ihm ein Flugzeug geschickt.“? Die Leader-Community der freien Marktwirtschaft? Die nach vorne von „Zivilgesellschaft“ faselt, aber nach hinten, beim Gläschen unter Freunden, den Putin eigentlich beneidet? Der hat es doch einfach besser. Die Community muss Heerscharen von Lobbyisten beschäftigen um ihre Interessen durchzusetzen und der kann das ganz einfach oligarchisch regeln. Wie übrigens früher mal der Chodorkowski auch.
Wenigstens hat sie jetzt mal die Freilassung von einem der ihren oligarchisch regeln können. Da sind Aufenthaltsgenehmigung, Einreisebestimmung und Familienzusammenführung ausnahmsweise mal kein Problem.

Wieder kommen mir Bilder in die Quere: Chodorkowsky steigt auf dem Dach des Gefängnisses in einen Hubschrauber, den ihm irgendein Amigo besorgt hat. All die Namenlosen, die weiterhin in diesem Knast schmoren werden, bleiben verzweifelt zurück. Chodorkowski wird sie bald vergessen haben.
Außer einigen wenigen. Seinen Amigos, die auch im Knast sitzen. Sozusagen sein Firmen-Vorstand. Um die wird er sich noch kümmern. Das kündigt er am Tag danach schon an.

Und ich?
Ich glaub, ich werde auf die Suche gehen nach alten Tageschau-Schnipseln. Ich möchte lieber nostalgisch verarscht werden als modern verklebert.

 

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