coronawoche11

Tag 77

Wir tragen Grasnarben ab, weil wir den Garten umgestalten wollen. Dabei legen wir unfreiwillig eine Ameisenkolonie frei. Ziemliche Aufregung. Hektisch versuchen die Tiere, die Puppen in Sicherheit zu bringen. Ein verrücktes Bild. Von etwas weiter weg, sieht man nur, wie die gelblichen, eliptischen Körper sich über den Boden bewegen, ohne die Tiere zu sehen, die sie schleppen.
Als wir einmal mit der wieder leeren Schubkarre zurückkommen, sehen wir ein Rotkehlchen, das mit zwei dieser Ameisenpuppen im Schnabel gerade wegfliegt.
Das süße kleine Rotkehlchen, das in unserem Garten wohnt: Ein echter Räuber! Deutlich weniger lieblich, als wir immer glauben wollten. Es räumt nach und nach die ganze Puppensammlung leer. Einige frisst es vor Ort, einige transportiert es weg. Rauhe Sitten in der friedlichen Natur.

Tag 76

Der Igel und der Molch

Und so zog der Igel weiter.
Er sah im Vorbeigehen einen kleinen Teich und ihm fiel auf, dass er Durst hatte. Vorsichtig tastete er sich an die Wasserkante heran. Er wusste, dass er besser nicht abrutscht und ins Wasser fällt. Als er gerade die Schnauze ins Nass senken wollte, bemerkte er, dass unmittelbar vor ihm ein Wesen im Wasser schwebte.
Er erschrak.
„Was machst du denn hier?!“
„Hallo??!! Ich lebe hier!“
Der Igel schämte sich ein bisschen. Die Frage war wirklich albern gewesen. „Und du?“, hörte er, „was machst du hier?“
„Ich, … ehm“, der Igel zögerte. Sollte er sich wirklich einem Wildfremden offenbaren? Dann sprach er weiter. Nicht, weil er sich entschieden hatte. Eher, weil er keine Antwort auf die Frage fand.
„Also, … ich suche jemanden, der mir zeigen kann, wie ich ein dickes Fell bekomme.“
„Hast Du doch!“
„Das ist kein Fell. Das sind Stachel.“
„Was sind ‚Stachel‘?“
Der Igel versuchte zu erklären, aber er hatte von Anfang an das Gefühl, dass das sinnlos war. Das fand auch der Molch. Nach einiger Zeit schlug er vor: „Ich komm raus und schau mir das an.“
„Ja, ist klar!“, maulte der Igel ironisch. „Wie denn? Du lebst im Wasser!“
„Also bitte!! Dein Horizont geht auch nur bis zum Ende deiner Hecke, oder?! Ich bin ein Molch, ich kann das. Geh mal ein Stück zurück.“
„Warum?“
„Du glaubst doch nicht, dass ich dir jetzt direkt vor der Nase herumspaziere. Du bist ein Raubtier.“
„Nein, nein, ich tu dir nichts!“
„Das sagen sie alle. Geh schon!“
Der Igel tapste ein Paar Schritte rückwärts.
Der Molch kroch aus dem Wasser und bewegte sich in einem großen Bogen um den Igel herum zu dessen Hinterteil. Dort angekommen, kletterte er auf seinen Rücken.
„Ui!“, rief er, „das fühlt sich wirklich nicht wie Fell an. Bist du überall so?
„Nein, am Bauch nicht.“
„Dreh dich mal um.“
Dann kroch der Molch dem Igel auf den Bauch. Der streckte die Beine in die Luft und wand sich wohlig unter den zarten Berührungen durch die Füße des Molchs.
Der kletterte nach einer Weile  herunter und kroch im Bogen zurück zum Teich. Als er wieder vor dem Igel im Wasser schwebte, fragte er: „Warum willst du ein Fell?“
Der Igel legte seinen ganzen Jammer in die Stimme.
„Alle Raubtiere sind stark und unangreifbar. Und alle haben ein kuscheliges dickes Fell.“
„Quatsch!“, erwiderte der Molch, „Du bist auf der einen Seite wehrhaft und stark und auf der anderen empfindsam und weich. Das sind wir auf die eine oder andere Art alle. Jammer nicht rum.“
Für einen Moment wanderte der Blick des Igels nach innen und folgte den Worten des Molches in sein Herz. Als er wieder zurück aufs Wasser schwenkte, war der Molch verschwunden.
Der Igel wusste nicht recht, warum, aber er war sicher, dass er jetzt auch einfach nach Hause gehen konnte.

Tag 75

Während ich ein paar Sachen zusammenkrame, um die kleine Einkaufstour zu machen, vergesse ich dauernd irgendwas, weiß nicht mehr, warum ich zum fünften Mal die Treppe hochgegangen bin, gehe wieder runter, unten fällt’s mir ein, gehe wieder hoch …
Ich bin in Gedanken. Seitdem ich dem Igel begegnet bin, geht er mir nicht mehr aus dem Sinn.
Ich möchte gerne eine kleine Geschichte schreiben mit ihm als Hauptfigur. Aber dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Er kommt mir kitschig vor. Und dann kommt er wieder und dann verwerfe ich ihn wieder …
Heute Morgen beim Zusammenkramen habe ich plötzlich eine Idee, die die Geschichte vielleicht doch weiterwachsen lassen könnte. Beseelt hänge ich ihr nach.
Und tapse nachdenklich und vergesslich hin und her.
Die Liebste kommt nach der morgendlichen Meditation die Treppe runter. Ich schaue ihr entgegen. „Und?“, fragt sie, „hast du was gemerkt?“
Ich stutze.
Sie hilft: „Ich hab dir doch gerade mein ganzes Wohlwollen geschickt!“
„Oh ja“, rufe ich – und in diesem Moment verstehe ich viel mehr, als sie ahnt – „ich habe es tatsächlich gemerkt. Ich wusste nur nicht, dass es von dir kommt.“
Wie immer in solchen Momenten schleicht mir ein Lächeln ins Gesicht. Es will ironisch aussehen. Weil ich an so was ja eigentlich nicht glaube. Aber es gelingt ihm nicht.

Tag 74

Ach, gäbe es doch einen Literaturnobelpreis für Kinderbücher! Dieses hätte ihn definitiv verdient.
Oder, – … warum nicht den für die Großen?!
Gemütlich unter einer Decke nebeneinander gekuschelt, können Enkel und ich gar nicht von dem Buch lassen. Es hat keinerlei Text, aber wundervolle Bilder. Und nur damit erzählt es eine spannende und berührende Geschichte von einem Kind, das wahnsinnig gerne malt, mit der Klasse einen Ausflug zum Mond macht und dann vergessen wird …
Eine Seite hat es dem Enkel besonders angetan. Mondmenschen sind aufgetaucht. Sie haben dem Schulkind beim Malen zugeschaut. Jetzt bietet das Kind ihnen einen Stift an, um es selber mal zu probieren.

Hare Ausflug zum Mond Bilderbuch

Aus: John Hare, Ausflug zum Mond. Textloses Bilderbuch © 2019 Moritz Verlag, Frankfurt/M.

Ihre Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Ich dichte jedem von ihnen einen Spruch an. Der Enkel kann gar nicht genug davon bekommen. „Nochmal!!!“, ruft er begeistert und schaut mich mit gespannter Erwartung an.

Tag 73

Nagelkran und Wonder-Woman

Mit unglaublicher Inbrunst hilft er dem Opa, die alte Hütte in ihrem Garten abzureißen. Er hat zum Geburtstag eine neue geschenkt bekommen. Er steht neben mir, hält mit seinen beiden kleinen Händen die Kneifzange, versucht den Nagel am Kopf zu fassen zu kriegen. Ist stolz, wenn ich jubiliere: „Ja! Jetzt hast Du ihn! Und jetzt ganz doll die Hände zusammendrücken!“ Und dann ziehen wir den Nagel mit vereinten Kräften heraus. Anschließend ist er der Kneifzangenkran und transportiert mit dem Kneifzangenkran-Greifer den Nagel in eine Tüte. Darin sind schon an die 30 anderen, die er transportiert hat.
Ab und zu verfalle ich in alte Gefühle beim Heimwerken. Z.B. „So, los jetzt, feddich werden!“ Dann ruf ich mich zur Ordnung. Es geht hier nicht um feddich werden. Es geht hier um Spielen. Und das ist eine ernste Angelegenheit. Die braucht Zeit!
Plötzlich steht die große Schwester neben uns. In Gartenkleidung. Sie ist schon zu groß, um sie noch Mädchen nennen zu können. Ob wir Hilfe gebrauchen können, fragt sie mit sichtbar gut gelauntem Tatendrang. Klar! Wir laden sie herzlich ein. Aber Vorsicht, erklären wir, da sind eine Menge Splitter und Nägel im Spiel. Man kann sich leicht verletzten. Kein Problem, sagt sie und schiebt mit einer gehörigen Portion Selbstironie ihre Hüfte zu Seite. Ich hab doch meine Wonder-Woman-Arbeitshandschuhe. Na dann …

Tag 72

Welt verstehen

Sie wird bald 4. Unablässig rattert in ihrem kleinen Köpfchen das Verarbeitungs- und Sortier-Aggregat. In einem Wahnsinnstempo. Und sie teilt es mit.
Jetzt sitzt sie da. Schaut mich an. Ein bisschen versonnen. Ab und zu wandert ihr Blick nach schräg irgendwo da oben. Sie sagt:
„Man darf sich nicht umarmen. Wenn man sich umarmt, kann man krank werden. Von dem Corona. Aber in der Familie nicht. Da kann man sich umarmen.“ Ihr Gesicht sieht aus, als würde sie ihren eigenen Worten noch einmal nachhorchen.
Sie wirkt nicht ängstlich oder verunsichert. Sie ist dabei, zu verstehen.
Ich will dazu nichts sagen. Ich schaue sie sein Weilchen an. Dann streichele ich ihre Wange. Die schmiegt sich mir entgegen.

Tag 71

Traum

Heute Nacht ein Traum.
Ich biege auf den Flur. Vor der Tür zum Klassenraum wartet er schon. Ich freue mich. Er sieht wunderbar aus. Ein extrem kleinwüchsiger Mann. Er hat sich verkleidet. Grau in Grau. Der Anzug, die Schuhe, das Hemd, der Trenchcoat. Auch der Hut und das eng um den Kopf geschlungene Tuch darunter. Wie in den Stoff hineingefärbter Staub.
Tiefdunkle Ränder unter den Augen.
Nur die Lippen sind knallrot geschminkt.
Er wird einen der grauen Männer aus „Momo“ spielen.
Wir öffnen die Klassentür. Gehen nochmal durch einen schmalen Gang. Dann betreten wir die Klasse selbst.
Er spielt seine Rolle großartig. Er ist spröde, streng, unnahbar. Trotz seiner Kleinheit füllt er den Raum mit unnachgiebiger Kälte. In der Klasse keimt Unruhe auf. Widerstand. Mir ist unwohl. Ich freue mich über die Wirkung dieser Szene. Und ich schäme mich. Sie spielen nicht mit. So wenig habe ich die Klasse „im Griff“. Ich bekomme meine Gedanken nicht in den Griff. Ich habe diesen Mann doch eingeladen für genau das, was er jetzt tut. Und jetzt ist es mir unangenehm und auch wieder nicht.
Mitten im leblosen inneren Tosen wache ich auf.