coronawoche10

Tag 70

Wald am Silbersee

Wald am Silbersee

Wald am Silbersee

Wald am Silbersee

 

Ein bisschen fühlt es sich an wie ein Abschiedsbesuch. Ich schaue mich um und denke traurig: „All das hier wird schon bald sterben.“ Ziemliche Theatralik in meinem Herzen. Aber es ist gut so. Ich will sie. Beinahe trotzig.
Dieser Wald hier wird, wenn alles den üblichen Gang geht, bald gerodet werden. Denn er soll dem Abbau von Quarzsand weichen. Das Öffentlichkeits-Beteiligungs-Verfahren zur Planung dieses Eingriffs in die Landschaft ist vor kurzem geendet. Es gibt 23 Eingaben. Die werden jetzt bearbeitet. Es gibt vorsichtig vorgetragene Kritik. Aber nicht an der Grenze zum Protest. Hier und da immer mal ein bisschen Beschwichtigung via Lokalzeitung. „Arbeitsplätze auf 25 Jahre gesichert“, „Angrenzende Naturschutzgebiete nicht gefährdet“, „Als Ersatz für die gefällten Bäume wird woanders aufgeforstet“ (an anderer Stelle kann man dann lesen, dass die Firma kaum Stellen findet, wo sie überhaupt aufforsten kann.), „Der Wald ist eh wertlos“ (O-Ton eines Mitglieds der Grünen, eines Fachmannes. Er kommt in den sanften Beschwichtigungs-Wogen besonders oft zu Wort.)
Ich weiß nicht, was ich machen kann. Was ich machen soll. Was ich gar machen muss? Ich stolpere herum, irgendwo im Niemandsland zwischen „Das ist ja alles längst beschlossen. Was willst Du da ausrichten?“ und „Morgen fange ich an, ein Baumhaus zu bauen.“
Gibt es ‚wertlosen‘ Wald?

Tag 69

So anders nicht

So anders als Tiere, wie wir gerne glauben möchten, sind wir nicht. Möchte ich glauben.
Ich hocke am Teich. Wie immer, wenn ich am Wasser bin, schaue ich hinein. Und immer im ersten Moment unruhig suchend. Dann ohne Absicht und dann findend.
Mir huscht eine zuckende Bewegung durch den Augenwinkel. Ich schaue hin. Recht weit oben hockt auf der Teichfolie eine Libellenlarve. Ich warte auf das Zucken. Es kommt. Ah! Sie jagt etwas. Aber anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Es schießt nicht ihr ganzer Körper aus der Bewegungslosigkeit hervor und schnappt. Erst beim dritten oder vierten Mal wird mein Bild klarer:
Von oben sieht es aus, als würde eine Art Lasche, eine weißliche Zunge, von der Larve weg auf die Beute zu schießen und sie schnappen. Später lese ich, es ist eine Fangmaske. Sie sitzt auf und vor dem Kopf der Larve und schnellt tatsächlich vom Köper weg zur Beute.
Aber warum macht sie das an derselben Stelle ein paarmal relativ kurz hintereinander?
Da! Ganz kurz vor der Larve bewegt sich etwas. Tatsächlich. Die Maske schnell hervor. Zieht sich zurück. Und, – … das Etwas bewegt sich weiter. Vier-, fünfmal geht das so. Ich wundere mich. So oft verfehlt die Larve ihre Beute? Ich schaue genauer hin: Was die Libellenlarve jagt, ist ein Schatten, der eines kleinen Babywasserläufers auf der Wasseroberfläche. Die Larve macht noch ein paar Versuche. Dann gibt sie auf. Sie schaut sich um. (Ich bin sicher, dass sie das tut.) Sie will wissen, ob jemand ihre kleine Dummheit beobachtet hat.(Ich bin sicher, dass sie das tut.) Sie sieht niemanden. Und schleicht möglichst unauffällig unter ein Knäuel aus Blättern und kleinen Ästen in der Nähe. Sie kriecht darunter. Nur ihr Kopf ist noch zu sehen. Sie ist erleichtert (ich bin sicher, dass sie das ist.) Hat keiner gesehen.
Tja, liebe Libellelarve, Irrtum, – ich hab’s gesehen. Aber keine Sorge, ich erzähle es nicht weiter.

Tag 68

Landschaft Westmünsterland

„Ich liebe diese Landschaft“, das denke ich jedes Mal, wenn ich durch das westliche Münsterland fahre. Selbst wenn ich zu dem Städtchen fahre, das endlich zu verlassen als junger Mann, ich sehr froh war. Und noch bin.
Aber dieser Landschaft! In sanften fast nicht einmal Hügeln sich wölbende Böden, Felder, unterbrochen von Strauchgruppen, kleinen Wäldchen, Wiesen, Hecken. All das sich genießerisch der Sommersonne ebenso zu Füßen zu legend wie dem schweren friedlichen Landregen.

Landschaft im Westmünsterland
Schon als Junge liebte ich diese Landschaft. Ich merkte es zum ersten Mal auf schmerzhafte Art. Meine Mutter und ich fuhren die übliche Schmuggelfahrradroute. Kaffee und Butter waren jenseits der grünen Grenze deutlich billiger. Die Strecke führte durch die Bilderbuchvariante eben dieser Landschaft. Aber dieses Mal war plötzlich für ein ganzes Stück des Weges alles anders. Die Wege waren auf einmal gerade, frisch asphaltiert, einige Hecken verschwunden, ebenso manche Bauminsel auf mancher Wiese. Alles so offen, so verfügbar, so gar nicht geheimnisvoll. Die Landschaft lud nicht mehr stromernde Kinder ein. Nur noch mächtige Mähmaschinen. Ich war traurig, ohne recht zu wissen, warum. Ich glaube auch nicht, dass ich darüber gesprochen habe und es dann vielleicht verstanden hätte.
So regelmäßig wie an die Liebe zu dieser Landschaft, werde ich an einen Schimmer dieser Trauer erinnert. Wenn mittendrin plötzlich eine dieser „Wir-machen-den-Weg-frei“-Baustellen auftaucht.

Straßenbaustelle im WestmünsterlandWenn die Wassersprenger erzählen, dass auch hier die Böden immer weiter austrocknen, um dann hinter einer großen Landmaschine einfach weg zu wehen …

Westmünsterland, Wassersprenger auf Kornfeld

Westmünsterland Wassersprenger auf Feld

Westmünsterland, Wassersprenger auf Feld

Traktor auf ausdörrtem Feld

Und doch, liebe ich, noch immer, diese Landschaft.

 

Tag 67.1

Ich phantasiere einen Dialog am Gemüsestand.
„Ich hätte gern eine reife Avocado.“
„Tut mir leid. Unsere haben nur mittlere Reife.“

Tag 67.2

Er hatte von Anfang an seine Pfötchen im Spiel. Jede Wette. Schon als er dafür sorgte, dass die Online-Buchung von Öffi-Tickets nicht funktionierte. Und schließlich, als ich dank seines telepathischen Einflusses den Mund-/Nasenschutz vergaß und ich nicht in den Zug steigen konnte, was mir zum Glück einfiel, bevor ich ein Ticket am Automaten ziehen konnte.

So verzichte ich auf den Spontanbesuch bei Freunden, und drehe stattdessen, wie oft in letzter Zeit ein paar Runden durch Sträßchen, die ich noch nicht kenne. Auf einem davon, zum Glück einem für Autos gesperrten, hoppelt plötzlich er, mitten auf dem Weg vor mir her. Wie die Hinterbeine lustwibbelig hoppeln und dabei den Hintern hochwerfen. Erst will ich glauben, es sei ein Vogel. Aber als ich da bin, sehe ich, es ist er: „Swinegel“. Alias „Mecki“.

igel mitten auf dem Weg

Tag 65

Lockerung kommt an 1

Dienstag Morgen. A 3.

Corona Lockerung Stau

Tag 64

Rat Race

Ich erinnere mich an Familienurlaube. Vater, Mutter, Sohn 1, Sohn 2 (Sohn 3, weil noch zu jung in der Übergangspflege bei Tante Heti.)
Hinfahrt zuerst im Käfer, Sohn 1+2 eingeklemmt auf der Rückbank zwischen Gebäckstücken, die nicht mehr oder von vornherein nicht in einen der beiden „Kofferräume“ passten. Später im VW 1600, Stufenheck, auf „unserer“ Rückbank etwas mehr Platz. Mit schöner Regelmäßigkeit Übelkeit auf der Schwarzwaldhochstraße. Schon knapp 600 km vorher am Anfang der Reise befürchtet.
3 Wochen Standardprogramm. Ruhetag (Erholung von der Reise), Wanderung „Brandenkopf“, 2 Ruhetage, Wanderung „Mosenmättle“, 3 Ruhetage (Mosenmättle ist anstrengend), Ausflug Freiburg, Ruhetage. Einer der Pflicht-Events: Picknick auf einer lauschigen Wiese am Flüsschen „Kinzig“. 4 orange-braun gestreifte Stoffklappstühle auf (bei einem die Seitennaht schon leicht aufgerissen, bedenklich, hält nur noch Sohn 2 weil: der Leichteste), Klapptisch mit Kartoffelsalat, irgendeiner Schwarzwälder Dauerwurst-Spezialität, Streuselkuchen, Fanta („ausnahmsweise, weil Urlaub ist“) und noch ein paar anderen Köstlichkeiten beladen. Und dann konnte die Gemütlichkeit an der „Frischen-Luft“ (mit einer gewissen Zackigkeit ausgesprochen) Fahrt aufnehmen.
Konnte sie dann aber doch nicht.
Vor der Gemütlichkeit kamen die Wespen.
Denen mein Vater sich mit Heldenmut und Gründlichkeit entgegenstellt. Er nimmt den einsamen Kampf auf, nur bewaffnet mit einem seiner nicht beigen, aber auch nicht grauen, aber auch nicht braunen Sommerschlappen. (Lange vor Adiletten, jedoch auch unbedingt mit langen Socken zu tragen.)
Es sind viele Wespen. Deren Bekämpfung ein größeres Projekt. Zum Glück schiebt Vater sich mitten im Kampf schnell ein Dauerwürstchen rein. Damit ist ein Startsignal gesetzt. Ohne hätten wir nicht gewagt anzufangen. Man fängt nicht ohne den Vater zu essen an. Mutter und Sohn 1 und Sohn 2 sitzen irgendwie unschlüssig am Tisch. Verstohlen naschen sie ab und zu etwas, – immer auf der Hut, ob das schnell reingeschobene Dauerwürstchen des Vaters womöglich doch gar kein Startsignal war und wir einen Man-fängt-nicht-ohne-den-Vater-Anschiss bekommen, gesteigert vom Zorn gegen die Wespen. Nach und nach werden wir mutiger. Sohn 1 und Sohn 2 entfernen sich gar vom Tisch und bauen den ein oder anderen Deich an der „Kinzig“ nebenan. Deichbau immer mal wieder unterbrochen von kurzen Bienenstich-Ausflügen zurück an den Campingtisch. Schlechtes Gewissen, weil wir abhauen können, Mama aber nicht.
Bei einem dieser Ausflüge bemerken wir einen leeren Tisch. Fragender Blick zu Mama. Schulterzucken mit den Augenbrauen. Ah, – Aufbruch. Vater hat die Nase voll.
Die Wespen warten nicht, bis wir weg sind. Sie machen sich schon während des Aufbruchs über die Krümmel her.
So ähnlich kommt mir vor, was ich im Netz gerade beobachte. Meine Arbeit an der Tscharntke-Rede (s. Tag 63, Heil-Land) ist abgeschlossen. Ich will nur noch – sozusagen als letzten Akt, die gesammelten Materialien in einen Desktop-Ordner packen. Dabei auch eine Offline-Version des Videos und die Rede als Pdf. Sicherheitshalber will ich schnell noch nachschauen, ob die Rede online überhaupt noch verfügbar ist und wo. Und wieder wird eine längere kleine Recherche daraus. Viele der Links zu der Rede funktionieren nicht mehr. Offenbar wurde an verschiedenen Orten das Video von der Rede  aufgrund von Anzeigen gelöscht. Dafür ploppt sie an anderen Stellen wieder auf. Begleitet von den einschlägigen Kommentaren. Das Video mache die Herrschenden wohl nervös … wahrscheinlich wegen der Wahrheit … man lasse sich von Merkel und Co. nicht mundtot machen usw. Ich finde auf die Schnelle 8 neue Orte der Veröffentlichung. 6 davon allein auf Youtube.
Das Spiel wird weitergehen. Und auch dieses Rat Race verstehe ich nicht. Die einzelnen Motive verstehe ich schon. Jemand ist sauer über das Video, findet darin etwas, das bestimmten Regeln widerspricht und zeigt es an. Ein anderer ist sauer, dass die Herrschenden das Video wieder gelöscht haben und lädt es woanders wieder hoch.
Was ich nicht verstehe, ist, dass diese Menschen nicht verstehen, dass sie ein albernes Spiel spielen. Das Tilgen-Wollen ist zum Scheitern verurteilt. Man wird ja so diese Botschaften des Videos nicht los. Sie kommen immer wieder. Und umgekehrt: Da, wo man es hochlädt, wird es wieder gelöscht werden usw.
Das Ergebnis: Nichts. Die, die glauben wollen, werden noch mehr glauben, – die die sich aufregend darüber, werden sich noch mehr aufregen.
Mein Vater hat das Wespen-Jagen wenigstens irgendwann abgebrochen.