coronawoche12

Tag 84

Ringo Starr

Ein schöner Tagesanbruch-in-den-Sonntag-Traum.
Er zeigt den Auftritt einer Band. Es ist, als wäre ich live dabei. Und zugleich, als würde ich ein Video von diesem Auftritt sehen.
Da spielt eine Band. Ich höre verschiedene Instrumente. Ich sehe aber nur den Schlagzeuger. Es ist ein junger Mann mit mittellangen blonden Haaren.
Und ich sehe Ringo. Er sitzt ganz rechts an einem schwarzen Flügel. Weit vorgebeugt lässt er eine zarte kleine, sehr hohe Begleitfigur aus dem Instrument perlen. Man hört sie kaum. Wenn man den Song im Radio hörte, so denke ich im Traum, würde man sie vielleicht gar nicht wahrnehmen. Wenn man sich aber auf sie konzentriert, fügt sie sich als wunderschöne Farbe in das Gemälde dieses Liedes.
Ringo singt gleichzeitig. Ich weiß es. Aber zu sehen ist es nicht. Es gibt kein Mikro und Ringo bewegt nicht den Mund. Ein bisschen irritiert mich das, aber dann schwebt die Irritation davon.
Der Song ist wunderbar. Eine jazzige und zugleich soulige Ballade. Relaxed und schleppend und doch groovy. Ich bewege mich zart mit. Nicht zu stark. Meine Bewegungen sollen diese mitreißende Musik nicht übertönen. Und ich will nicht einen Ton verpassen.
Das Lied endet mit einer a-capella gesungenen Melodie von Ringo. Sie lockt das Herz direkt hinter das Ohr und nimmt es in den Arm. Eine Gänsehautmelodie, mit zärtlicher Inbrunst gesungen. Ich registriere schon im Traum, dass Ringo nicht der Ringo ist, den ich kenne. Er ist viel jünger. Ein bisschen pausbäckig. Ohne Bart. Ohne Allüren. Einfach der junge Mann von nebenan.
Das Lied endet. Und klingt lange nach.
Oder, nein, eigentlich endet es nicht. Es schwebt davon. Etwas von ihm bleibt.
Ich werde wach und kann mich ganz genau an den Song erinnern. Ohne, dass ich den Rhtythmus nachmachen oder die Melodie tatsächlich andeuten könnte. Er ist wie nah und da und doch auf andere Art, wie es ein Song sonst wäre. Noch jetzt ist das Erinnern an den Song so, als müsste ich ihn eigentlich spielen und singen können, als würde ich ihn hören, wenn ich gleich das Radio anmachte. Und zugleich genau so nicht. Er ist auf andere Art konkret. Wie ein sehr prägendes Gefühl, das sich als Erinnerung erhalten hat, obwohl man gar nicht mehr so genau weiß, zu welcher Situation es gehörte. Mit einem Hauch von süßer Melancholie. Wie ein nie geteiltes Geheimnis von Schönheit.

Tag 83

Wiederentdeckte Rose

Lange Zeit stand sie auf der Vermisstenliste. Je mehr die Gewächse um sie herum wucherten, umso mehr versteckte sie sich. Und dann war sie irgendwann ganz verschwunden. Eine Weile vermissten wir sie noch, dann vergaßen wir sie.

Seit ein paar Tagen arbeiten wir uns Stück für Stück durch den Garten. Er soll ein ganz verändertes Gesicht bekommen. Und als wir einen alten Nussstrauch, jede Menge Brombeer-Ranken und noch einige andere botanische Garten-Imperialisten radikal verjüngen, taucht sie plötzlich auf. Mit einer strahlenden Blüte. Als würde sie rufen: „Doch, ich war die ganze Zeit da. Ihr habt nur einfach nicht richtig hingeguckt!“

Tag 82

Markttag. Mittendrin bleibt mir ungewollt das Maul offenstehen vor Staunen. Ein kleiner Junge sitzt in einem Elektro-Kinder-Auto. Und das wird – kein Scherz -, wie ich wenig später erkenne, von der Mutter ferngesteuert durch die Menge bugsiert.
Ich kann das gar nicht glauben. Bestimmt habe ich mich verguckt. Zuhause schaue ich lieber nochmal nach, ob es sowas wirklich gibt. Gibt es. Wieder steht mir das Maul offen.

Kinderelektroauto

Kinderelektroauto Beschreibung

 

Tag 81

Gedeckter Tisch im Restaurant

Zum ersten Mal seit drei Monaten gehen wir wieder mal essen. Ein Fest, trotz der coronesken Kleinigkeiten, die die Misere auch hier wachhalten, u.a. die datentechnische Slapsticknummer: Ausfüllen des Bogens mit den Kontaktdaten.

Tag 80

Wie üblich endet einer meiner Radel-Streifzüge in meinem Stammcafé.
Auf dem Großbildschirm, vor dem sich an Samstagen Fußballfans tummeln, läuft Werbung. Sehr einladende Filmaufnahmen von einem 8-Sterne-Luxus-Resort in Vietnam. Edles Ambiente. Teuerste Einrichtung in vietnamesischen Stil. Tradition trifft Moderne. Dann der „Höhepunkt am Abend“. Ein feines Dinner im Luxus-Restaurant. Jeden Abend gehobene italienische Küche.

Tag 79

Ich bin ein trotzkopfdummer Trottel. Trostbedürftig.
Vor drei Wochen habe ich eine Mail aus „vertrauenswürdiger Quelle“ mit der Empfehlung eines Videos bekommen. Als ich es ansehe, stelle ich mit Entsetzen fest, dass es eine Anti-Corona-Maßnahmen-Predigt von einem fundamentalistischen freikirchlichen Pfarrer ist. Seine schwer erträgliche Rhetorik hat beinahe goebbels’sches Ausmaß.
In einem Anfall von Leidensbereitschaft, „Nein, das kann ich so nicht stehen lassen“ und wildem Vorsatz, dem etwas Gehaltvolles entgegenzusetzen, schreibe ich eine Analyse (Heil-Land) der Rede. Ich schicke sie den Absender*innen eben jener Fw-Fw-Weiterleitungsmail, die die Empfehlung der Predigt enthielt.
Zwei Wochen lang schaue ich danach jeden Tag gebannt ins E-Mail-Postfach in der Hoffnung, Antwort zu bekommen. Eigentlich sogar in der Gewissheit. Ich war sicher, dass die Absender*innen sich dazu verpflichtet fühlen.
Die Gewissheit war unangebracht. Außer wachsweichen Ausreden („versehentlich zu mir geschickt…“ und Ähnliches) nichts. Jedenfalls nichts Substanzielles. 20 Stunden intensive Arbeit zerbröseln im weißen Rauschen der Web-Aufregung.
Ich hake nach. Einer immerhin schreibt, es tue ihm leid, dass ich mir soviel Arbeit wegen seiner Empfehlung gemacht habe.
Keiner schreibt, womit ich fest gerechnet habe: Dass man entsetzt und beschämt sei, die Rede nicht sorgfältig genug gehört und gesehen zu haben, bevor man sie anderen empfehle. Dass man sich ärgere, solch einem üblen demagogischen Unsinn zur Weiterverbreitung verholfen zu haben. Oder Ähnliches.
Ich leide. Und spüre einen ungesunden Drang, diese Empfehlungs-Weiterleiter*innen mit spießiger Besser-Wisser-Penetranz weiter zu nerven, bis sie endlich zugeben, was für einen Unsinn sie da verzapft haben.
Damit wenigstens irgendwas passiert, suche ich, unter welchen youtube-Adressen diese unsägliche Predigt überall veröffentlicht ist. Es sind 11. Ganz im Stile eines bockigen Alten hinterlasse ich, dem Rat einer Freundin folgend, überall einen Kommentar mit einem Link zu meiner Analyse.
Herzklopfen dabei. Echtes Herzklopfen. Ob es jetzt einen Shitstorm gegen mich gibt? Ob ich das überhaupt dann aushalte? Zwischendurch zögere ich. Dann tue ich es doch.
Und dann passiert – … – nichts. Nicht einmal ein Shitstürmchen. Nur ein kleiner Kommentar zu meinem Kommentar an einer Stelle: „Wow, da haben sie sich ja richtig Arbeit gemacht.“ Ich möchte glauben, dass das hämisch ironisch gemeint ist. Ist es aber nicht. Ich werde als Gesinnungsgenosse auf zwei weitere „Wissenschaftler“ hingewiesen, die denselben Unsinn verbreiten wie dieser Pfarrer in der besagten Predigt.
Inhaltlich gibt es genau drei Reaktionen auf meine Analyse: Von der Liebsten, von meinem Sohn und von einer guten Freundin.
Das war’s.
Und ich wusste, dass es so kommen würde. Ich habe es bei der Arbeit immer wieder gespürt. „Martin, das ist trotzkopfdummer Unsinn, was Du hier machst!“ So flüsterte es aus irgendeiner stillen Ecke irgendwo in meinem Herzen. Aber zu leise, als dass ich es nicht hätte mit trotzkopfdummer Betriebsamkeit übertönen können.
Ich wusste, dass diese Analyse kaum jemand lesen wird. Erst recht wusste ich, dass diejenigen, denen ich den Link zu dieser Predigt verdanke, sich nicht die Blöße geben würden, ihren Irr-Sinn einzugestehen. Ich wusste, dass „im Netz“ meine Analyse keine Resonanz finden würde. Ich wusste das alles auch deshalb, weil auch ich nur sporadisch auf Web-Hinweise aktiv reagiere.
Und habe mir die Arbeit trotzdem gemacht. Trotzkopfdummer Trottel verstößt gegen alle Regeln des Netz-Betriebes:

  • Viel zu lang.
  • Viel zu sorgfältig.
  • Viel zu angewiesen auf ruhige Lektüre.
  • Ohne Bilder.
  • Keine schnelle Belieferung mit vorher schon vorhandenen Emotionen, die ohne weitere Denk-Belästigung vor allem schnell befeuert werden wollen.
  • Keine Beteiligung an irgendeiner schon existierenden „Community“.
  • Und vor allem: Viel zu langsam. Viel zu spät.

Der Rausch um diese Predigt herum ist schon 3 Wochen alt. Hallo?!? Drei Wochen!! Das ist ungefähr so lange wie die Zeit nach dem Aussterben der Dinosaurier.
Vielleicht bin ich auch einfach schon zu alt für das Klicke-di-klick-Geklimper. Vielleicht sind meine Vorstellungen von Lesen und Wahrnehmen und Denken und nochmal Lesen und mit anderen Reden und nochmal woanders Gucken einfach hoffnungslos antiquiert.
Aber umgekehrt. Positiv betrachtet. Ich sollte mir nicht einbilden, ich könnte Internet einfach so. Ich muss noch viel lernen. Oder: ich möchte noch viel lernen. Ob ich dann wirklich nach den Regeln spielen kann und will, kann ich dann ja sehen...

 

Tag 78

Kinderspielplatz im Regen

Heftiger Platzregen-Überraschungs-Schauer auf dem Spielplatz mitten bei der Arbeit an umfangreichen Sandkranungsvorhaben. Schnelle Flucht. Wir kauern uns auf Kinderbänkchen in einem Kinderhäuschen auf dem Kinderspielplatz. Wir beiden Erwachsenen sitzen da wie Trabifahrer. Gemütlich unbequem.
Ab und zu ein dann doch etwas neidischer Blick auf den Radfahrer, der sich ganz in der Nähe in einen überdachten Unterstand gerettet hat. Die Möglichkeit hatten wir gar nicht gesehen.
Der Sandkranvorarbeiter regt regelmäßig an, doch jetzt wieder weiterzumachen. Es hätte doch aufgehört zu regnen. Für die ihm unterstellten erwachsenen Sandhilfsarbeiter wird es zunehmend schwieriger, ihn um noch ein bisschen weitere Geduld zu bitten. Er würde jetzt ohne mit der Wimper zu zucken im strömenden Regen weiterarbeiten.