zwoelf

Sommer im Städtchen

Sommer im Städtchen. Menschen plappern eisselig umher.
Vor mir läuft ein Mann. Das blaue T-Shirt und die schicke Sommer-Chino zeigen schon hitzebedingte Trage-Dellen. Die heute Morgen liebevoll nach hinten gegelten Haare haben sich Schweiß in die Strähnen gezogen.
Um den Mann herum schwärmt hüpfig ein vielleicht 8 Jahre alter Junge. Er ist blass. Er hat sehr schmale Glieder. Die Turnschuhe wirken beinah auf comic-hafte Art zu groß für sein zierlichen Füße. Seine Sommersprossen haben heute den Namen verdient. Sie scheinen sich darüber zu freuen. Er scheint sich auch zu freuen. Vielleicht ist er stolz mit seinem Vater durchs Städtchen zu streifen. Vielleicht traut er sich sogar auf seiner Zuneigung zu tanzen. An der Ampel hole ich die beiden ein, kann nun bruchstückhaft hören, was sie sprechen. Grün. Wir starten. Der Vater fragt: „Und warum machen sie das?“ Der Junge plappert irgendwas. „Und warum machen sie das?“ Irgendein Plappern. „Und warum machen sie das?“ … „Und warum machen sie das?“ Der Vater wiederholt die Frage in absolut gleichem Wortlaut sicherlich zehnmal. „Und warum machen sie das?“ Nur im Tonfall ist ein ganz kleine Steigerung wahrzunehmen.
Die lustige Lieblichkeit der Szene kippt. Bedrohlichkeit schwappt herüber. Ich weiß nicht, was schließlich der Junge gesagt hat. Jedenfalls höre ich jetzt den Vater im Erklärmodus. Irgendetwas über Bienen. Der Junge schweigt ein verschüchtertes Schweigen. Dann scheint der Vater fertig zu sein. Der Junge fängt langsam sein hüpfiges Schwirren wieder an. Er scheint Spaß daran zu haben, mit nach innen gedrehten Füßen zu gehen. Die unbeholfene Wabbeligkeit des Ganges macht ihn lachen. Der Vater sagt irgendetwas. Wird energischer. Dann schimpft er zischend. „Jetzt hör doch mal auf mit dem Herumgealber. Ich erklär Dir gerade was.“ Bei „erklär“ hebt sich die Stimme bedrohlich beleidigt. Sie bleiben stehen. Der Vater doziert irgendwas über seine Füße. Er dreht sie dem Jungen nach innen und nach außen, zeigt wiederholt darauf. Dann ist er fertig. Die beiden gehen weiter. Der Vater vorweg. Der Junge hinterher. Sein Kopf leicht gesenkt. Seine Haut eine Spur blasser. Oder liegt das am Schatten? Er schweigt. Aber er geht korrekt.

Service top

Ultraschall und die anderen Untersuchungen sind eindeutig. Es geht dem Baby bestens. Nur an der „Beckenendlage“ hat sich leider noch nichts geändert.
Alle, die hier auf der Geburtsstation arbeiten, sind überaus freundlich und hilfreich. Wenn es nicht ein Krankenhaus wäre, würde man sagen: Der Service ist top.
Ich frage mich, ob dem Vater während einer vielleicht notwendigen Operation als kleine Aufmerksamkeit des Hauses ein Imbiss gereicht wird. Vielleicht, – … „Kaiserschnittchen“?

Wolfgang Bosbach gibt bekannt, dass er bei der nächsten Wahl nicht mehr für den deutschen Bundestag kandidiert. Frau Ostehr interviewt ihn im Morgenmagazin auf WDR 5. Ich habe die ganze Zeit das Gesicht dieser rheinischen Schwadroniermaschine vor mir, die so aussieht, als würde sie ihre Zeit hauptsächlich damit verbringen, zwischen Sonnen- und Talkshowstudio zu pendeln.
Später in den Nachrichten erfahre ich, dass Herr Bosbach schwer kebskrank ist. Und noch ein wenig später erfahre ich, dass diese Krebskrankheit unheilbar ist.
Mein Inneres verstummt.
Es ist beschämt und ein bisschen brummig. In Zukunft wird es sich nicht mehr so einfach über  das Bedeutungsblasen abblähende Besitzbürger-Gebrabbel erregen können, denn dieser Mann wird ihm leidtun.
Es verstummt und fragt sich, wie das geht, dass ein Mann dem Tod nah ist und so jovial scherzend mit der Moderatorin über seinen bevorstehenden Bundstagsauszug plaudern kann. Ist das zutiefst verständliches Verdrängen? Ist es das einfach bis zum Ende immer weiter Abrollen eines geübten Mechanismus politischer Rede? Ist es das Festhalten daran, das Bild einer honorigen öffentlich Person darzustellen, auf dem der Tod schon angefangen hat herumzukritzeln?
Schon tut mir nicht mehr nur sein Sterben leid.
Und ein bisschen tue ich mir selber leid. Einer weniger zum drüber Ereifern. Einer mehr, der mir nur vor Augen hält, ein Teil eines absurden Spiels zu sein.
In dem launigen Interview erzählt Herr Bosbach auch, dass Herr Plasberg ihm eine wahnsinnig nette SMS geschrieben habe und wie sehr er sich darüber freue.
Mein Inneres ist schon verstummt. Sonst würde es sich jetzt bestimmt über Herrn Plasberg erregen und darüber, dass die, die das Spiel des sich Erregens als scheinbare Gegener anheizen, doch zur selben Mannschaft gehören.

Medaillenspiegel

Ich frage die Liebste, warum wohl so viele gute Läufer*innen aus Jamaika kommen. Sie begegnet dieser Frage nicht mit dem gebührenden Ernst und antwortet: Muss am Kiffen liegen.
Steile These. Aber wenn man den Medaillienspiegel richtig berechnet, kommt man schon ins Grübeln:
Man vergebe an jede Nation für jede Goldmedaille 100, für jede Silbermedaille 90 und für jede Bronzemedaille 80 Punkte.
Man berechne die Summe aller Punkte.
Man wikipediere die Einwohnerzahl jedes Landes und teile sie durch Huntertausend.
Die Zahl, die man dann erhält, teile man durch die Summe der Medaillenpunkte.
So erhält man die Zahl der Medaillienpunkte pro 100 000 Einwohner einer Nation.

Und dann sieht der Medaillienspiegel so aus:

  1. Jamaika                35,5 Punkte
  2. Kroatien                22,1 P.
  3. Ungarn                  11,6 P.
  4. Australien             11,4 P.
  5. Niederlande         10,4P.
  6. Großbritannien   10,1 P.
  7. Kuba                      8,9 P.
  8. Frankreich           5,6 P.
  9. Deutschland        4,6 P.
  10. Italien                   4,1 P.
  11. Südkorea              3,7 P.
  12. Russland              3,5 P.
  13. USA                       3,4 P.

3 Wochen sturmfreie Bude. Die Alten nicht da.
Aus dem Mauerblümchen ist eine veritable Mauerblume geworden.

 

Das Model und das Mauerblümchen

Diese Farben! Genau diese Mischungen aus milden und doch leuchtenden Gelb- und Rottönen, wie sie in dieser Saison angesagt waren. Der Stoff an den Blüten luftig fließend und in sanften kleinen Rundbögen aufgefächert. Chic und verspielt zugleich. Beides in genau der richtigen Dosis. Und diese Haltung! Kerzengerade aufgerichtet mit einem Hauch von Drehung. Wie Skulpturen und doch alles andere als verkrampft. Die Köpfe geradezu kokett leicht geneigt. Das ganze Bild selbstbewusst zurückhaltender Chic!
Ach! Wie oft hatte das kleine Mauerblümchen ihre Nachbarin angeschwärmt. Heimlich zuerst und verschämt. Und zugleich sehnsüchtig. Wie gerne würde sie diese wundervolle Schönheit ihre Freundin genannt haben.
Aber einfach sich ein Herz fassen und Kontakt aufnehmen? Niemals. Die würde sich nie mit ihr einlassen. Doch nicht mit einem so unscheinbaren Gewächs wie ihr!
Immer wieder schaute sie hinauf. Träumte. Und zog sich voller unerfüllter Sehnsucht wieder zurück.
Doch eines Tages sah sie, dass die Köpfe dieser Schönheit sich ganz leicht nach unten geneigt hatten. Ob das Model vielleicht doch nicht so unnahbar war, wie sie gedacht hatte? Galt die Kopfneigung womöglich gar ihr? Und war da nicht der Hauch von einem Lächeln? Einem echten. Nicht diesem künstlichen falschen Laufsteg-Lächeln.
Und dann traute sie sich doch. Sie sprach die Schönheit an. Aufgeregt fiebrig hoffend. Keine Reaktion. Traurig zog sie sich wieder zurück.
Aber der Bann war gebrochen. Als hätte das Ausbleiben einer schroffen Abweisung ihr zumindest den kleinen Mut gelassen, es immer wieder zu versuchen, auch wenn die Antwort Schweigen blieb.
Der Sommer war schon reif. Sie selbst war ein gutes Stück gewachsen. Mit jedem Millimeter diesen Blüten ein bisschen näher. Der Versuch, die Schöne anzusprechen, war schon fast zu einer täglichen Routine geworden. Kaum rechnete sie noch je mit einer Reaktion.
Und dann geschah es. Erst hörte sie nur ein schwaches Wispern, das ihr erst so vorkam, als würde sich eine Biene nähern. Natürlich würde die zuerst in ihrer Nachbarin nach Nahrung suchen. Aber keine Biene kam. Das Wispern blieb. Sie reckte sich so gut es ging zu dem leisen Tönen hin. Und, – ja! Ganz deutlich hörte sie es: „Hast Du was gesagt?“ Eindeutig! Ihre schöne Nachbarin hatte geantwortet. „Ja! Ja. Eh. Ja“ Mehr brachte sie nicht zustande. Vor lauter angestrengten Versuchen, Kontakt zu bekommen, hatte sie sich nie gefragt, was sie denn dann sagen sollte, wenn die Schöne doch …
„Ich, – also ehm, ich …“, stotterte sie.
„Kannst Du etwas lauter sprechen? Weißt du, ich bin ganz schlimm schwerhörig. Das war ich schon immer.“
Beinah schämte sich das Mauerblümchen dafür, dass sie geglaubt hatte, ihre Nachbarin wäre zu stolz sich ihr zuzuwenden. Die Schöne hatte sie nicht gehört. So einfach war das! Sie hob die Stimme. „Also…, ja, ich versuch`s. Ich hab dich schon ganz oft angesprochen. Ich hatte schon Angst, ich würde dich nerven.“ „Nein, ganz und gar nicht.“ Am liebsten wäre das Mauerblümchen noch ein bisschen schneller gewachsen, um besser verstehen zu können. Aber irgendwie ging es auch so. Sie redeten. Und schwiegen. Und selbst das Schweigen redete.  Und während des Redens merkten sie, dass ihre Freundschaft schon vor dem Reden begonnen hatte. Beide gestanden einander kichernd, dass sie sich glühend beneideten. Die eine die andere wegen ihrer erhabenen Schönheit und der pflegenden Liebe, die ihr von den Besitzern des Hauses zuteilwurde. Die Andere die Eine, weil sie so gut hören konnte, weil sie den Mut hatte einfach zu wachsen, wo sie nicht hingehörte. Die Schöne erzählte sogar, dass sie oft genug Angst gehabt hätte, wenn die Terrassentür aufging, dass jetzt der Moment gekommen wäre, wo das Mauerblümchen herausgerissen würde. Und dann wäre sie wieder allein gewesen. Und jedes Mal hätte sie erleichtert aufgeatmet, wenn es wieder einmal ausgeblieben war. Sie erzählte dem Mauerblümchen auch, wie sehr sie es beneidete, weil das Mauerblümchen sich selbst aussäen konnte, sie aber nicht.
Und dass sich ihre Sorge um das Mauerblümchen ein wenig verflüchtigt hätte, weil die Hausbesitzer jetzt schon seit 2 Wochen nicht mehr herausgekommen waren.
Eine selige Zeit hatte begonnen. Klar, sie hätten sich wünschen können, dass sie niemals enden würde, aber dazu wussten sie zu genau, dass das nicht so sein könnte. Dass die Sehnsucht danach sie nur daran gehindert hätte, ihre Freundschaft zu genießen.
Heute Nacht, so hatten sie verabredet, wollten sie länger wach bleiben. Der Himmel war klar. Es war Vollmond. Er würde hell und freundlich zu ihnen hinablächeln. Das wollten sie sich zusammen ansehen.
Und so kam es. Sie standen da. Die Luft zwischen ihnen war gesättigt von ihrer Freundschaft. Der Mond schien hell zu kichern. Es war wie im Märchen. Sie sagten nichts. Sie wussten ja, dass Worte eben manchmal einfach stören, besonders, wenn einer schwerhörig ist.

Beim Gespräch mit einem Freund kommt die Rede auf Cat Stevens, der sich heute Yusuf Islam nennt. Mir fällt die Melodie eines Liedes ein, das ich früher (jetzt, wo „früher“ mehr als 30 Jahre bedeutet, kommt mir das Wort ganz schön wuchtig vor) sehr gern gespielt und gesungen habe. Nach einigem Hin- und Hersummen und -Suchen fällt uns der Titel auch noch ein. „The Wind“.
Am nächsten Tag probiere ich einfach mal aus, ob ich es nach mehr als 30 Jahren noch immer kann. Und, – ja, – nach zwei Ansätzen in der falschen Tonart, fließt mir der richtige Bewegungsablauf aus den Fingern. Einfach so. Ohne weiteres Nachdenken.
Man sagt, das Gehirn steuere die Muskeln. Ich glaube, es ist umgekehrt.

 

Libelle am Ärmel

Ein sonniger Morgen. Das gleißend flimmernde Spiel des Sonnenlichtes auf den Halmen des Schilfgrases am Teich lockt mich zu einer Foto-Session. Mittendrin landet eine Libelle auf dem Ärmel meines Bademantels. Den Rest der Session schaut sie sich aus nächster Nähe an. Erst als ich wieder reingehen möchte und sie mit einem sanften Stupser auffordere, draußen zu bleiben, schwirrt sie davon.

Nur noch ein paar Schritte vom Glück entfernt.

Steffen Simon kommentiert mit diesem typischen etwas zu tiefen schein-coolen intimer-Kenner-Stimmsitz das olympische Frauenfußball-Spiel Brasilien gegen China. Eines seiner Formulierungshighlights:
„Dass sich Brasilien im Moment so schwer tut, liegt vor allem daran, dass die Chinesinnen Fornika, die wichtigste Spielgestalterin der Brasilianerinnen, jetzt in Manndeckung nehmen.“
Wenig später dann Bernd Schmelzer beim Spiel Deutschland gegen Simbabwe. Es fällt das 1:0 für die deutsche Mannschaft durch einen Kopfball von Sara Däbritz. Zwei Verteidigerinnen von Simbabwe sind dicht neben ihr, können das Tor aber nicht verhindern. Bernd Schmelzer: „Wenn schon zwei Verteidiger in der Nähe sind, dann sollte wenigsten einer von beiden auch versuchen zum Kopfball zu kommen.“
Ich schätze, die Fußballmänner des ARD haben bei einer Fortbildung „Wie gender ich richtig?“ die ultimativ politisch korrekte Redeweise gelernt. Die Frauen werden einfach als Kerle bezeichnet. Das ist die größte Form der Wertschätzung im Fußball.
Steffen Simon allerdings ist punktuell noch unsicher. Sein Gender-Coach hat ihn drauf aufmerksam gemacht, dass ihm bei „Chinesinnen“ nochmal die diskriminierende Redeweise unterlaufen ist.