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Ihn hat der Rhein genommen

Er schaut aus dem Fenster des fahrerlosen Shuttles. Ungefähr hier muss es gewesen sein. Vielleicht auch etwas weiter nördlich. Aber dort kommt er nicht hin. Ein Stück weiter sieht er schon die hohen Deiche. Kurz dahinter ahnt er das Meer. Er glaubt, es schon zu riechen. Rings um ihn herum sandiges Ödland. Wie hineingesprenkelt verfallene Reste einer Siedlung. Jeffkan bebt. Er ist ein einer Weise aufgeregt, wie er es nur ein einziges Mal erlebt hat. Ängstlich und zugleich sehnend. Er ist inzwischen allein in dem Shuttle. Als er schon fast entschlossen ist auszusteigen, fällt sein Blick auf den Screen an der Stirnseite. Inmitten eines Gewirrs von sich gegenseitig in schneller Folge aus dem Bild schiebenden Spots, Info-Blöcken und Grafiken bleibt sein Blick an einem News-Band hängen. Er schreckt auf. Es handelt von einer der beiden Apps, die er mit seiner Clique entwickelt hat. Sie täuscht den elektronischen Health-Spot, den jeder jugendliche Mensch in der Stadt – meist unter einer Augenbraue – implantiert hat und der in Echtzeit den Eltern die empfohlene Dosis Emo-Balancer meldet. Die App, die sie dafür entwickelt haben, nennen sie „ND:ND“. „New Drug: No Drugs“. Sie hat sich in Windeseile verbreitet. Eine regelrechte Bewegung unter Jugendlichen ist daraus entstanden, die täglich dynamisch wächst. Dem Newsticker kann er entnehmen, dass es ihre App jetzt offenbar schon bis in die Landesregierung gebracht hat. Der Gesundheitsminister will ihre App als „Drogenmissbrauch“ einstufen, damit ihre Entwicklung und ihre Nutzung höher bestraft werden können. Er schüttelt den Kopf. „Pf. Drogenmissbrauch“, faucht er leise verächtlich. Und faucht in seinen Gedanken weiter. Als ob das Missbrauch wär! Wir wollen doch diese „Health-Care“-Drogen gerade nicht mehr nehmen. Für die Emo-Balance. Lächerlich. Im nächsten Moment spürt er zugleich die Bedrohung: Die volle Strafmündigkeit ist erst vor kurzem auf 12 Jahre herabgesetzt worden. Er ist jetzt 14. Mit jedem neuen User wächst auch für ihn die Gefahr aufzufliegen. Umweht von einem Gemisch aus Sorge und Stolz steht er auf. Der Shuttle ist jetzt ganz dicht vor dem Deich. Er wird gleich umkehren. Jeffkan hält ihn an und steigt aus. Sicherheitshalber checkt er noch einmal den ebenfalls implantierten Tracker, der seinen Standort an seine Eltern sendet. Auch ihn hat seine Clique gehackt. Für seine Eltern ist er jetzt in Dinslaken, dem nördlichsten Bezirk des urbanen Bioreservats „Metropole Rhein“. Bei Freunden. Er muss also nicht damit rechnen, dass sie ihn da aufspüren, wo er wirklich ist: 50 km weiter nördlich. Hier lag einmal eine Stadt namens Rees. Der Ort, in dem vor Jahren seine Urgroßeltern lebten. Die Ruinen, die er vom Shuttle aus gesehen hat, sind stumme Zeugen der Siedlung.
Er aktiviert die VR-Funktion in seinen E-Contact-Lenses. Nichts soll jetzt von außen stören. Er geht los. Mit einer kurzen gedanklichen Fokussierung ruft er das Programm auf, mit dem er sich in den Zustand der Landschaft zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Vergangenheit versetzen kann, seit es Google Earth gibt. Mit dem nächsten Gedankenbefehl scrollt er auf „-65“, auf das Jahr, in dem sein Urgroßvater starb. Das Bild springt um. Im selben Moment steht er bis zum Brustkorb im Wasser. Da ist sie wieder, diese verlockend beunruhigende Erregung. Er ist froh, dass sie jetzt nicht mehr gebremst wird von den Emo-Balancern. Auch wenn er sie zugleich fürchtet.

Nur einmal hatte er solch eine Wallung erlebt. Trotz der Emo-Balancer. Da war er mit seiner Gr0ßmutter zusammen. Sie zeigte ihm ein Blatt Papier. Mit vorsichtigen Bewegungen holte sie es aus einer zerschlissenen alten Mappe. Es schien zerbrechlich. Als würde es bei einer zu heftigen Berührung zerbröseln. Sie selbst hatte es im Nachlass ihrer Mutter gefunden. Seine Oma hatte seine zweifelnde Verwunderung beim Blick auf das Blatt bemerkt. „Das ist ein Brief“, erklärte sie. „Man hat früher manchmal mit einem Schreibgerät mit der Hand auf Papier geschrieben und damit sehr persönliche Nachrichten übermittelt. Weiß Du das nicht?“ „Doch“, hatte er schnell gesagt. Damit sie nicht weitererklärte. Er wusste, dass es schwer war, Oma zu bremsen, wenn sie erst einmal in den Rausch nostalgischer Erzählungen mit den dazugehörigen Erklärungen geriet. „Liest Du mir den Text vor?“, bat er. Und sie begann: „Rees, 1 Temmuz 2035, Sevgili Aylin, seni tüm kalbimle sevdiğimi biliyorsun. Ama şunu da bilmelisin ki ben seni bir erkeğin bir kadını sevmesi gerektiği gibi sevmiyorum. Sana tapıyorum. Ama seni arzulamıyorum…“
Er unterbrach sie. Er wusste, dass sie ihn mit der Sprache ärgern wollte. „Babane“, maulte er schmunzelnd mit gespielter Genervtheit.  „Du weißt doch, dass ich kein Wort Türkisch spreche!“ Wie üblich schüttelte sie mit   einem schnaufenden Ausatmen die gutmütige großmütterliche Missbilligung ab. Ihre beinah feierliche Vorlese-Stimme begann noch einmal: „Rees, am 01. Juli 2035. Geliebte Aylin, Du weißt, dass ich Dich von ganzem Herzen liebe. Du bist der größte Schatz in meinem Herzen. Aber, feinfühlig wie Du bist, ahnst Du sicher auch, dass ich Dich nicht so liebe, wie ein Mann eine Frau lieben sollte. Ich verehre Dich. Aber ich begehre Dich nicht. Begehren kann ich nur einen Mann. Ich habe Dir das nie gestanden. Diese Schande konnte ich einfach mir selbst und Dir und unserer Tochter nicht zumuten. Es quälte mich von Jahr zu Jahr mehr. Ich kann zu meiner Art von Liebe nicht stehen. Nicht für sie kämpfen. Aber ich kann sie auch nicht übergehen. Die Not wird größer und größer. Sie saugt allen Lebensmut aus meinem Gemüt, meinem Herzen, meinem Körper. Wenn ich dich anfasse, spüre ich Lüge. Wenn ich es vermeide, spüre ich Deine Einsamkeit. Und die Not wird schlimmer, wenn ich mir klarmache, dass Du das schon längst weißt, mich aber mit einer Frage danach nicht beschämen willst. All das muss nun ein Ende haben. Für mich und für Euch. Es schmerzt mich, Euch so weh tun zu müssen. Aber es gibt keinen anderen Ausweg. Irgendwann werdet Ihr den Schmerz überwinden. Ich weiß, das wird schwer sein. Aber es wird leichter sein, als wenn ihr mit einer verschwiegenen Lüge endlos durch die Tage gehen müsstet, immer und immer weiter einem heimlichen Leid ausgesetzt, das sich versteckt und doch die Seelen quält. Deine und die unserer Tochter. Lebt wohl! Meine Liebe wird über meinen Tod hinaus immer Euch gehören!“
Jeffkan schaute auf. Die Augen seiner Oma schimmerten vertränt.
Sie schwiegen. Sie schauten einander an und versuchten zugleich, sich nicht zu sehen. Sie fürchteten beide, die Fassung zu verlieren. Er hatte als Kind so oft weinend auf ihrem Schoß gekauert. Aber jetzt trauerte auch sie. Wer hätte jetzt wen trösten können? Erst eine ganze Weile später fand sie den Mut zu sprechen. „So ist es“, sagte sie mit brechender Stimme. „Und die Tochter“, sagte Jeffkan und schluckte, „… das bist du.“ Das Aussprechen von Selbstverständlichkeiten half ihnen, überhaupt wieder zu sprechen. Sie hob den Kopf und schaute an ihm vorbei suchend in die wuchernde Erinnerungswelt eines langen Lebens. Dann fuhr sie fort: „Die Geschichte, dass Dein Urgroßvater beim Baden ertrunken ist, ist eine Familien-Legende. Die ganze Großfamilie hat beharrlich daran festgehalten. Auch ich. Immer wieder wurde sie wiederholt, gebündelt in diesem einen Satz: ‚Ihn hat der Rhein genommen.‘ Wahrscheinlich haben alle geahnt, dass er eine blumige Notlüge war. Er hat allen geholfen, etwas auszusprechen, ohne es zu sagen. Wenn man ihn aussprach, wurde zwar die Sonne etwas dunkler, aber sie verschwand nicht. Du bist jetzt alt genug, Jeffkan.“ Sie zögerte. Niemand konnte so gut wie sie bedeutungsschwere Pausen machen. „Ich liebe Dich und ich meine, Du hast die Wahrheit verdient. Du hast verdient, dass Du nicht unter diesem Schatten gehen musst. Du hast verdient, im Licht zu gehen. Im Licht der Wahrheit. Auch wenn du dieses Licht nicht sofort siehst.“
Dieses melancholische Versprechen. Das Bild des verwitterten Briefes. Die fürsorgliche Traurigkeit seiner Großmutter. Die fein geschwungenen Linien der Handschrift seines Urgroßvaters. Die Blicke der Verwandten, wenn sie wieder und wieder diesen Satz aussprachen. Seine vage Lust, die Legende auffliegen zu lassen. Sein Gefühl von Versagen, wenn er sich wieder nicht getraut hatte, wenn er wieder die Energie, die Kraft, den Mut dazu nicht aufgebracht hatte, getröstet nur vom Blickkontakt mit seiner Oma. Verbündet im gemeinsamen geheimen Wissen. Er wusste nicht wohin mit all dem. Genauso wenig wie mit dem schleichenden und doch immer heftiger wühlenden Verlangen, dem Gefühl seines Urgroßvaters an jenem letzten Tag, in jenem letzten Moment, nachzuspüren. Natürlich war er immer schon neugierig gewesen. Immerzu hatte er als Kind Fragen gestellt. Aber eine so wild drängende Neugier, dass er kaum noch an etwas anderes denken konnte?

Er ist jetzt in der Mitte des Rheins. Umgeben von gurgelnden Wassermassen. Vorbeiziehenden Schiffsrümpfen. Algen. Einzelnen Fischen. Er weiß, dass er jetzt eigentlich auch keine Luft mehr bekommen würde. Das also waren die letzten Blicke seines Urgroßvaters.
Plötzlich erschrickt er. Etwas aus der realen Welt springt ihn an. An seinen Füßen. Sie sind nass. Offenbar ist er jetzt tatsächlich im Wasser. Plötzlich reißt der Rausch der Virtual Reality ab und verpufft in der Wirklichkeit. Er weiß, dass heute der Rhein hier an der tiefsten Stelle nur 50 cm tief ist. Zornig schaltet er die VR-Funktion aus, schließt die Augen und überlässt sich seinen Füßen. Sie tasten weiter, bis er das Wasser an seinen Beinen spürt. Er lässt sich auf die Knie sinken. Einem wilden Impuls folgend bückt er sich tief hinab und taucht den Kopf unter Wasser. Hält ihn dort. Und hält ihn weiter. Er will die Grenze spüren, die auch sein Urgroßvater spürte. Auf die andere Seite schauen. Die Luft wird knapp. In der Enge seines Kopfes wühlt wild knisternd ein Erstarren. Er hält das aus. Immer weiter. Er genießt es sogar.
Plötzlich rüttelt etwas an seinem Arm, an seinen Schultern. Sanft und zugleich entschlossen wird sein Oberkörper hochgehoben.  In sein Prusten hinein, mit dem jede Körperzelle so viel Sauerstoff wie möglich einsaugt, hört er eine Stimme: „Alles in Ordnung bei ihnen? Brauchen Sie Hilfe?“ Zwei ziemlich verwahrlost anmutende Männer sind über ihm. Seine Erleichterung über wiederentdecktes Leben mischt sich mit Angst vor den beiden. All die beunruhigenden Geschichten über die extra-urbanen Nomaden, die in der Stadt kursieren, wabern durch sein Gemüt. Er will antworten. Seine Stimme versagt. Er versucht ein Kopfschütteln. Dabei streicht er sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Seine Augen finden den Blick eines der beiden Männer. Nichts Beängstigendes geht davon aus. Nur Besorgnis. ‚Sie haben mich gesiezt,‘ huscht ihm durch den Sinn. Noch nie hatte ihn jemand gesiezt! „Nein, – nein. Danke. Nein“, stammelt er, „danke, ich komme klar.“ Er sieht die zweifelnden Blicke. „Doch! Wirklich!“ schiebt er eilig hinterher.
Noch eine Weile verharren die Männer. Dann richten sie sich wortlos auf und wenden sich ab.
Jeffkan schließt die Augen. Ein winziges orangenes Leuchten in seiner E-Contact-Lense signalisiert ihm, dass die App, die seinen Tracker täuscht, nicht mehr funktioniert. Vielleicht die Dauernässe? Oder der Druck in seinem Kopf? Egal. Die Frage ist unwichtig. Er hätte die App ohnehin gleich abgeschaltet.