coronawoche5

Tag 35

 

Ich erschrecke an mir.
Es gab einen Virus. Irgendwann ‚damals‘ irgendwo in China.
Dann war dieses Virus bei mir. Ich lernte seinen Namen, ich lernte die Namen von Virologen. Ich lernte „Shutdown“, „Cocooning“, „Infektionsketten“, #stayathome, und vieles mehr.
Heute scheint mir, dass von dem Moment an, als mir klar wurde, dass eine Erkrankung an Covid 19 genau mir geschehen kann, wenn ich nicht bestimmte Vorsichtsmaßnahmen ergreife, dass ich von dem Moment an auf dem Weg in einen Herz, Hirn und Seele aufweichenden Nebel war, aus dem ich nicht herausfinde.
Die immer irgendwie zusammengedachte Verbindung von Denken, Handeln und dem, was ich für Vernunft halte und für Aufrichtigkeit mir selbst und anderen gegenüber, ist brüchig. Ich musste lernen, dass sie offenbar bis ins Groteske brüchig ist.

Ich erlebe tatsächlich diese Szene, und weiß kaum, ob ich sie mir selber glauben kann:

Ich befinde mich auf einem meiner ‚lonesome-wulf-Spaziergänge‘: Plötzlich mitten auf dem Weg auf dem Asphalt eine Atemschutzmaske. Sie sieht unbenutzt und nicht verdreckt aus.
Super. Kann man doch noch gebrauchen. Und auch noch eine, die ziemlich professionell aussieht. Wo die Dinger so schwer zu kriegen sind …
Ein paar Schritte. Die Maske schlonkert am weißen Gummiband in meiner Hand. Vereinzelte Gedanken kratzen am Rand meiner Wachheit. Dringen aber noch nicht durch.
Dann plötzlich Alarm. Was ist, wenn die Maske mit Viren verseucht ist?
Fallen lassen!!
Ach, ist ja Quatsch. Du hast sie ja eh schon angefasst. Kannst Du sie jetzt auch festhalten. Außerdem: Wenn schon, dann doch wohl in einen Papierkorb. Jetzt komm‘ mal runter. Du achtest jetzt halt darauf, dir bis zum Händewaschen nicht ins Gesicht zu fassen.
Dann noch heißerer Alarm. Oh Gott! Du hast dir doch gerade so einen Pfefferminz-Drops aus der Tasche gefingert. Ein Rest .davon wird gerade von meiner Zunge hin- und hergeschubst Mit wird heiß im Gesicht. Sofort ausspucken! Ein anderes Ich versucht mich wieder einzufangen. Hey, hey, hey, bleib mal schön hier! Du hebst ab. Was ist los?!?
Aber ich bin nicht zu retten. Ich schwimme in einer grauen Blase und weiß nicht mehr, was ich denke oder empfinde.
Die Maske schlonkert mit mir nach Hause.
Ich zeige sie der Liebsten. Und erzähle ihr die Geschichte.
Es ist mir unendlich peinlich und ich weiß nicht einmal genau, was. Sie reagiert unverständlich gelassen. Sie müsste sich doch Sorgen machen wegen meiner Verrückt-heit.
Dann fasse ich langsam provisorisch wieder Fuß, werfe die Maske weg, wasche mir Gesicht und Hände geradezu pedantisch. Desinfiziere die Klinke, den Türknauf, den Griff von der Mülltonne. Versuche mich zu erinnern, was ich noch angefasst habe. Beobachte mich dabei und schüttele den Kopf.
Wie kann ich bloß so von allen Geistern verlassen sein? Nicht nur den guten?

Tag 34

Nichts

„Was ist?“, fragt man manchmal.
„Nichts“, sagt man manchmal.
Und meint: „Alles.“
Man kann aber nur „Nichts“ dazu sagen.
So geht es manchen Tagen.

Tag 33

Wir drehen keinen Film

Kann der Zufall, dieser Tausendsassa, so ungeheuer klug Regie führen?
Heute gehen wir ins Kino. Wir schauen einen Film. Es ist ein Film, der eigentlich im März in die Kinos hätte kommen sollen, was dann aber nicht ging, aus Gründen, die ich jetzt nicht mehr so richtig präsent habe.

Diesen Film sehen wir auf einem Online-Portal namens „kinoflimmern.com“ (Ja, dies ist Werbung.) Wir haben dafür sogar so eine Art Eintritt bezahlt. Der kommt diversen Programmkinos zugute.

Nun, – dieser Film erzählt diese fiktive Handlung: Ein nicht mehr so ganz junger Mann, ein Schauspieler an einem kleinen Off-Theater, bucht eine Kamerafrau. Diese soll eine Zeitlang sein Leben filmen. Er ist ein Mond, der sich für eine Sonne hält und um sich selber kreist. Oft ist er traurig, weil alle anderen das nicht so sehen. Dass er eine Sonne ist. Er möchte verstehen, warum. Oder vielleicht auch nur effektvoll so tun, als ob.
Etwas weniger poetisch: Die Kamerafrau begleitet ihn überall hin. Zu seiner Probe, zu seinem besten Freund, zu einer (jetzt platonischen) alten Liebe usw. Der junge Mann schaut sich zwischendurch immer wieder mal Ausschnitte aus den Aufnahmen an.
Ich schaue zu, wie er lebt. Nein, ich schaue, was die Kamerafrau gefilmt hat, wie er sich gibt, wenn er weiß, dass sie filmt, was er möchte, das sie als Eindruck vermittelt, wie er lebt. Und das alles ausgedacht als Handlung. Das hat mächtig „Knoten-im-Kopf-Potential“. Und mächtig „Echte“-Gefühle-Potential.
Ich taumle von beschämtem Kichern, weil irgendetwas sehr Absurdes in einem Dialog z.B. sehr stark an eigene Absurditäten  erinnert. Oder stöhne gequält, wenn er sich besonders bescheuert verhält. Oder schweige betreten, wenn er mir leid tut. Oder atme schwer, wenn mir zum xten Mal wieder klar wird: Nein, es ist nicht das Leben dieses Mannes. Es ist eine Filmhandlung.

Wie ist das möglich, dass ein Film, der lange vor Corona entstanden ist, der schon auf Festivals lief und jetzt – gezwungenermaßen! – Kinopremiere im #stayathome-Kino hat, so genau und treffend über das erzählt, was wir in dieser Zeit geradezu inflationär oft auf Youtube und Vimeo und Instagram und Skype und sonstwo erleben: Dass Menschen Bilder aus ihrem Leben zeigen. Dass dieses „dies ist mein Privatleben“-Genre eine Gattung geworden ist mit eigenen Style-Konventionen. Dass wir glauben, wir sähen Menschen in ihrem Privatleben und in Wahrheit Filme von fiktivem Privatleben sehen. Und wir können denken, das sei echt. Und sie sagen immer: Wir haben keinen Film gedreht.
Wie das möglich ist? Der kluge, mitfühlende Zufall! Er wollte gerne diesem wunderbaren Film die perfekte Darbietungszeit schenken. Glaube ich.

Übrigens heißt der Film: „Wir drehen keinen Film“ (und ja, dies ist Werbung).

Tag 32

Kö-/\-elbecke

Wir sind auf dem Rückweg. Möglichst lange wollen wir mit dem Rad an der Emscher lang. An einer Baustelle ist Schluss. Wir müssen ausweichen. Von einer Parallelstrecke – etwas weiter weg – fällt unser Blick immer wieder auf das Gelände. Im Hintergrund eine riesige Industrie-Anlage, die wie eine Raffinerie anmutet. Ist vielleicht auch eine. Davor zwei parallele Baumreihen. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man dahinten eine lauschige Allee vermuten. Sie säumen eine stinkende Kloake. Die Emscher. Genannt: Köttelbecke. Die beiden T’s darf man nicht sprechen. Sie werden nur durch einen kurzen Kehlkopfverschluss als Stopper angedeutet.
Dann erinnern wir uns. Genau hier haben wir mal mitten auf der Wiese vis à vis von der sagen wir: Raffinerie übernachtet. Auf einer Holzbrücke. Eine Kunstinstallation mit dem Namen „Warten auf den Fluss“. Eine chinesische Zick-Zack-Brücke, deren Zick-Zack böse Geister davon abhalten soll, den Fluss, den sie überspannt, über sie zu überqueren. Hier wäre sie eigentlich nicht nötig gewesen. Die bösen Geister können ja riechen. Damals erinnerte diese ungeheuer schöne Konstruktion daran, dass dereinst an dieser Stelle die renaturierte Emscher in ihrem alten Bette plätschern sollte. Die Brücke führte also über einen zukünftigen Fluss. Was für eine schöne Idee!
Genau hier ist jetzt Baustelle. Eine Riesenbaustelle. Sieht aus, als würde an einer Autobahn gebaut. Oder einer höhergelegten E-Bike-Rennstrecke. Ein sauber geformter Deich, geometrisch exakt geneigte Wangen, in leichtem Bogen über eine lange Strecke sich von der Emscher weg- und wieder in ihre Richtung zurück biegend. Oben drauf mehrere schwere Maschinen. Eine von ihnen walzt gerade was.
In meiner Phantasie sehe ich eine E-Bike-Reisegruppe auf dem Deich. Alle korrekte Einsfuffzig voneinander weg. Interessierte Blicke. Ein Reiseführer mit ziemlich spack sitzender Radlerhose redet in ein Headset-Mikro. Hier, so erklärt er und rührt mit Hand in der Luft zwischen Deich-Neubau und Raffinerie, – hier soll die Emscher später einmal fließen und sich bei Hochwasser ausbreiten dürfen. Da vorne ist ja noch die alte Emscher. Die Köttelbecke. Höhö. Eigentlich ist es ja die neue Emscher. Die alte Emscher floss ja hier. Also: Dahinten fließt quasi die alte neue Emscher und hier die neue alte. Höhö.
Zufrieden radelt die Gruppe wieder von dannen.
Ich auch.
Als wir ein Stück später wieder an der alten neuen Emscher entlang radeln können, spüren wir tatsächlich doch einen Hauch von Renaturierung: Sie stinkt nicht.

Tag 31

Mundschutz

Eine Stadt macht Ernst.

Harlekin Skulptur mit Mundschutz

Gänse Skulpturen mit Mundschutz 2

Gänse Skulpturen mit Mundschutz 1

 

Gans Skulptur mit Mundschutz

Gans Skulptur mit Mundschutz 2

Tag 30

Rote Beete eingefroren

Ooooch, – … du arme kleine Rote Bete, – … musstest du auch in Quarantäne? Nicht traurig sein. Irgendwann, wenn ich mal längere Zeit nicht zuhause bin, darfst du bestimmt wieder raus.

Tag 29

Rebellion

Die Liebste bleibt an einem Schaukasten hängen. Sie steht perplex da. Ich gehe zu ihr zurück. Ab und zu schüttelt sie leicht den Kopf. „Jetzt guck dir das an!“, raunt sie.

Abstand halten Werbeplakat

Ich gucke mir das an. Verstehe aber ihre Verstörtheit nicht. O.k., das Plakat hängt schief und ein bisschen unentschieden an der Magnet-Pin-Fläche herum. Aber das kann es nicht sein. So pingelig ist sie nicht.
Ich sag erstmal nichts, damit ich nicht doof dastehe.
Und dann fällt es auch mir auf. Wie hab ich das bloß übersehen können! Es ist ja klar zu erkennen!
Mich durchfährt jähe Erkenntnis. Dass gallische Dorf, diese allseits bekannte Ikone des wackeren Widerstandes gegen die autoritäre Obrigkeit, … es liegt im Süden des Münsterlandes. „Meine“ Stadt ist eine Keimzelle des Aufbegehrens. Das Epizentrum nichts weniger als das alte Rathaus selber. Womöglich ist „mein“ Bürgermeister der strahlende Held der Rebellion.
Die Botschaft ist ja eindeutig: Wollt Ihr Euch wirklich wie die blöden Hammel auf Befehl auseinander treiben lassen, um dann, wenn es den Mächtigen gefällt, bei „Haltern bittet zu Tisch“ wieder gemeinsam an den Trog beordert zu werden?
Wollt ihr das?!?!
Wollt Ihr dumme Schafe sein?!?!
Das Plakat wirkt. Ich bin zutiefst verunsichert. Ja, ich muss mir eingestehen, dass auch ich nur ein unkritisches Vieh in der Herde war. Ich beschließe noch hier vor Ort an diesem Schaukasten mich zu ändern. Ich werde wieder renitent in der Nase bohren, sogar öffentlich, auch wenn ich mich nicht erinnere, was ich heute nach dem Händewaschen schon alles angefasst habe.
Ich folge dem Ruf der Freiheit!